Mein Gott, Walter!

Es geschieht selten, ja muss geradezu als Glücksfall gewertet werden, dass unsereins mit einem Beispiel aus dem eigenen Leben eine sozialwissenschaftliche Theorie bekräftigen darf.

In diesem Fall das Problem der sogenannten "Quellenamnesie". Der Essener Sozialpsychologe Harald Welzer* bezeichnet damit das weitverbreitete Phänomen, "daß ein Ereigniszusammenhang zwar korrekt erzählt wird, der Erzähler sich aber in der Quelle vertan hat, aus der er die Erinnerung geschöpft hat."
Unser Beispiel hat nicht den Rang einer Erinnerung von
Ronald Reagan, von dem Welzer zu berichten weiss, die "dramatische Geschichte aus seiner Kriegsvergangenheit" sei in Wirklichkeit eine Szene aus dem Film "A Wing and a Prayer" (1944) gewesen.
Wir aus dem Jazz sind bescheidener, unser Held der Vergesslichkeit ist, immerhin, ein Professor der Neuen Musik, der in Berlin lebende Komponist
Walter Zimmermann. Über die Jahre seines Kölner Wirkens liegt nun ein Interviewband** vor, in dem Zimmermann gegen den geringen Widerstand des Interviewers seine Aktivitäten im berühmten "Beginner Studio" (1977-1984) dramatisiert.
Demnach müssen die Verhältnisse damals im WDR märchenhaft gewesen sein: "Da bin ich häufiger hin, habe ein paar Bänder hingelegt und losgeplappert. Danach konnte man zu Kasse gehen und seine 500 Mark oder so abholen."
Oder so. Von ähnlicher Präzision ist der folgende Satz: "Es gab einen Redakteur, Uli Lux - "In between" hieß die Sendereihe -, der irgendwann Krach bekam im WDR und dann wegging."
Den Redakteur Lux gab es, die Sendereihe auch. Bloss hatten die beiden nix miteinander zu tun, und in zweiundzwanzig Jahren und drei Monaten "In Between“, die unsereins dort am Mikrofon sass, ist uns wohl ein Robert Zimmermann alias
Bob Dylan untergekommen, nicht aber ein Walter Zimmermann.
Mein Gott, Walter, da hast du Welzers Theorie vom kommunikativen Gedächtnis (wonach unsere "lebensgeschichtlichen Erinnerungen...gar nicht zwingend auf eigene Erlebnisse zurückgehen müssen, sodern oft aus ganz anderen Quellen, aus Büchern, Filmen und Erzählungen etwa, in die eigene Lebensgeschichte importiert werden") um die wirklich schöne Quelle "Radio" bereichert.
Danke, dass wir dazu beitragen durften.

* Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München, 2005: Beck´sche Reihe 1669, 260 S.,€ 14.90
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Zimmermann/Leukert:: beginner studio. Köln, 2006: DuMont Literatur- und Kunstverlag, herausgegeben von der Kunststiftung NRW

©Michael Rüsenberg, 2006. Nachdruck verboten