BLUE BOX (NU BOX) Sonic Screen ***

1. Subconscious Suburbs (Kott, Eisold, Winterschladen), 2. Blue Sweeper, 3. Zorro, 4. Pendler, 5. Aisling Gheal (trad), 6. Rexism, 7. Samp Theme, 8. Argonauts, 9. Enhancer

Reiner Winterschladen
- tp, Alois Kott - b, bg, g, elecronics; Peter E. Eisold - perc, dr, electronics

rec ?/2004

Enja/NIN-1903 2, LC-Nr 13526

Wenn das Label die (Werbe)Posaune richtig angesetzt hat, dann wird es im Umfeld dieser Veröffentlichung aus der gemeinen Jazzkritik herausschallen von einer "Musik, die dem Zeitgeist immer ein Stück
voraus ist." Denkbar auch in der Variante: "Unprätentiös und ohne Effekthascherei sind hier wahre Musiker mit einer Passion zur Utopie am Werk." Oder: "Man kann die Musik von morgen heute schon hören."
Spaßeshalber mal unterstellt: das alles
wäre möglich - dann bietet "Sonic Screen" eine Vision des Schreckens. Klänge die Musik morgen wirklich so wie heute bei Blue Box (Nu Box), dann verlören wir jede Neugier, jede Lust auf das Unerwartete. Die Zukunft enthielte nicht mehr die Hoffnung auf das noch nicht Gehörte - sondern würde uns kurzschliessen mit der jüngeren Vergangenheit.
Mögen auch einige Hilfsmittel dieses Trios gegenwärtig in den entsprechenden Magazinen getestet werden (z.B. das Programm "Reason“), was die beiden Elektroniker dieses Trios damit anstellen, klingt keineswegs nach Gegenwart, sondern nach
80er /90erJahre. Bis über beide Ohren sind sie verliebt in filter sweeps, Filter-Modulationen, auf gut Deutsch: den wha-wah-Effekt. Sehr deutsch auch die Marotte, das Stereo-Panoroma jeweils bis in den äussersten Winkel auszufahren, aber auf eine Tiefenstaffelung der Klänge zu verzichten. Das ist, als würde bei einer Schaufenstergestaltung alles an der Scheibe zappeln.
Mit dem Debüt von Blue Box
1985, wohl wahr, wehte frische Luft in den deutschen Jazzrock. Prägnante Themen, kurze Stücke, eine Abkehr vom "Alles-in-einem-Stück-Sagen-Müssen" (in den 90ern von Tome XX zu hoher Kunst entwickelt.)
Tanzbar waren Blue Box schon immer, 1988 waren sie nicht zu unrecht auch zur "Kunstdisco" in Seoul eingeladen. Hier und da lief bei ihnen immer schon eine
drum machine mit - heute ist sie das dominante Mittel geworden. Bloss, es groov´t einfacht nicht!
Der eigentlich schöne Titel "Sonic Screen" entpuppt hier eine zweite Bedeutung: dies ist nämlich Bildschirm-, am
Monitor entstandene Musik. Wer zum Spass mal Lamb, Rocker´s HiFi oder Project 23 dagegenhält, alles potentielle Referenzen...dem fallen die Ohren ab.
Keine Frage, Blue Box (auf Wink des Labels, wie zu hören, nun in Nu Box umgetauft) treiben allerlei Aufwand. Das deutlichste Opfer ihres kleinzelligen Vorgehens aber ist ihr Melodiker. Reiner Winterschladen gilt als fabelhafter Trompeter, warum aber muss er von morgens bis abends den Miles Davis Clone geben?
Warum zur Abwechslung nicht mal Freddie Hubbard oder
Lee Morgan zitieren...oder, ganz verwegen, Reiner Winterschladen sein?!

©Michael Rüsenberg, 2004, Nachdruck verboten