Deutscher Jazzpreis 2023

Wer die Kundgabe des Deutschen Jazzpreises verfolgt, tut gut daran, sich anzuschnallen und eine Sitzhaltung einzunehmen, als befände er sich auf einer Achterbahn.
Elias StemesederDie Fahrt (Achtung Metapher) schießt auf Höhen (wie zum Beispiel bei der Auszeichnung von Elias Stemeseder in der Kategorie „Piano/Keyboards“) - und stürzt so jäh in die Tiefe, dass man wieder aussteigen möchte.
Nämlich, als die deutsche „Band des Jahres“, die Insomnia Brass Band aus Berlin, aufgerufen wird.
Wer die Begründung der Jury dazu hört, vorgetragen auf großer Bühne bei der jazzahead in Bremen, der hätte bis vor kurzem gedacht: macht jetzt auch „Titanic“ irgendwas mit Jazz?
Im Jahr 2023 kann man nicht anders, als Chat GPT dahinter zu vermuten. Und diese Text KI-ist bekanntlich „nicht wahrheitsfähig“.
Nun ist bekannt, dass Jury-Prosa nicht von jedem Jurymitglied mitformuliert wird (in der 16-köpfigen Hauptjury saßen immerhin u.a. Jean-Paul Bourelly, Nate Chinen, Aaron Parks, Angelika Niescier).
Es ist aber ein Rätsel, warum sie das an Groove & Intonation scheiternde Insomnia Trio z.B. dem Julia Hülsmann Quartett vorgezogen haben. Und hoffentlich sind sie ordentlich zusammengezuckt, als dann auf der Bühne ein Sprecher ihnen ihr eigenes Votum vorliest:
„Die Jury konnte kaum glauben, dass sie es lediglich mit einem Trio zu tun hat, denn Schlichting, Lucks und Marien klingen wie eine komplette Brass Band - wenn sie deren Energielevel nicht sogar übertreffen“.
Das ist ungelenk, hier mag man noch lächeln. Aber nahezu schamlos tönte die Begründung der Jury für den Sonderpreis an die Queer Cheer – Community for “Jazz” and Improvised Music.
Die Berechtigung dieses Projektes steht nicht in Frage (obwohl man darüber selbst wenig erfuhr, und Max Mutzke als Moderator gerade hier überfordert war).
Im Metropoltheater Bremen aber schien in der gegenwärtigen geo-politischen Lage für einen Moment der Sinn für Proportionen abhanden gekommen zu sein:
„Die Preisträger:innen für den Sonderpreis der Jury lösen genau dieses Versprechen ein: Jazz als Freiheitsversprechen. Als revolutionäre Kraft, die bestehende Ordnung in Frage stellt und im Zweifelsfall hinwegfegt.“
Im Zweifelsfall müsste eine solche Aussage, wäre sie denn ernst zu nehmen, zu einer Einladung nächsten Donnerstag bei „Maybritt Illner“ führen und Queer Cheer dort den Platz der Letzten Generation einnehmen.
Nicht selten hatte man den Eindruck, als handele es sich bei diesem komischen Ding „Jazz“ nicht um eine Kunstform, die hierzulande z.B. an 18 Hochschulen gelehrt wird, sondern um ein sozial-pädagogisches Projekt.
Den Ton setzte die Staatsministerin für Kultur, Claudia Roth, in einem Gruß-Video:
„Jazz ist bis heute eine Musik, die den Unterdrückten und Marginalisierten der Gesellschaft eine Stimme, einen unverwechselbaren Sound verleiht. Louis Armstrong, Billie Holiday, Nina Simone, Archie Shepp. Das sind nur einige der wirklich ganz großen Namen, die einem dabei einfallen, dabei einfallen müssen.“
(jazzahead-Rückkehrer berichten von einer weiteren KI-Leistung, die den Betrachtern im Internet verborgen blieb. Demnach hat im Saal eine Translation-app in der Rede von Roth nicht Louis, sondern Neil Armstrong gehört - und geschrieben. Die größte Gaudi hatten die Anwesenden mit dem Schriftzug, der "all die..." ins Englische übertragen sollte - und statt "all the" ... "ALDI" an die Wand warf.)
Der Deutsche Jazzpreis (nicht Roth hat ihn gegründet, wie Mutzke sagt, sondern deren Vorgängerin Monika Grütters) hat den Jazz Echo abgelöst, das ist nicht ganz schlecht. Jede Auszeichnung in den 31 Kategorien ist mit 10.000 Euro dotiert.
Für manche Kategorien kann man sich bewerben, für andere nicht. Man hört von renommierten Kandidaten, die dies nicht tun. Ihre Anzahl wird nach diesem Jahrgang zunehmen.
Manche Konkurrenzen waren diesmal hoch-karätig, insbesondere in der Kategorie 4 „Piano/Keyboards“: Elias Stemeseder, Marlies Debacker, Simon Nabatov), andere mäßig; z.B. Kategorie 5 „Gitarre“. Dass sich hier ein „Klassiker“ wie Kurt Rosenwinkel gegen Keisuke Matsuno und Peter Meyer durchsetzte, ist keine Überraschung.
In „Saiteninstrumente“, wie die Kategorie in ihrer internationalen Form heisst: Jeff Parker gegen Sam Gendel und Tomeika Reid, naja.
Kurios „Schlagzeug/Perkussion International“: ist hier das Feld mit Makaya McCraven, Sun-Mi Hong und Terri Lyne Carrington auch nur ansatzweise repräsentativ dargestellt?
Den größten Reibach machten die Kölner:
Loft (Spielstätte des Jahres - zum zweiten Mal. Und es wird die erste sein, die dichtmacht, sollten die Vorschläge des Deutschen Musikrates zu Honoraruntergrenzen „Gesetz“ werden), Matthias Schriefl (Blechblasinstrumente National), Heidi Bayer (Komposition des Jahres), Luah (Vocal Album des Jahres) sowie Cologne Jazzweek (Festival des Jahres).
Letzeres kann man als einen Wink für die Spielstätte der Verleihungen der Deutschen Jazzpreise 2024/25 lesen. Sie werden in Köln stattfinden.
Ob das die helle Freude wird, muss sich zeigen.
Kolner in Bremen   1                                                                                                                                Kölner (darunter 1 Düsseldorfer) in Bremen: Alle mal "Dooom" sagen!

Die vollständige Liste der Preisträger

erstellt: 28.04.23 (ergänzt 29.04.23)
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten