BILL FRISELL/KIT DOWNES/ANDREW CYRILLE Breaking The Shell *******
01. May 4th ( Bill Frisell, Kit Downes), 02. Untitled 23 (Downes), 03. Kasei Valles (Frisell, Downes), 04. El (Downes), 05. Southern Body (Bill Frisell, Kit Downes, Andrew Cyrille), 06. Sjung Herte Sjung (Norwegian traditional), 07. Two Twins (Frisell, Downes, Cyrille), 08. Cypher (Frisell, Downes), 09. July 2nd (Bill Frisell), 10. Proximity (Cyrille), 11. Este a Székelyeknél (Hungarian traditional)
Bill Frisell - g, Kit Downes - pipe organ, Andrew Cyrille - dr, Lucy Railton - vc (4)
rec. 25. + 26.05.2022
Red Hook Records RH 1006
Ein sehr flüchtiger Blick auf die Besetzung könnte u.U. zu einer groben Velwechsrung führen. Nämlich zu der Annahme, hier eine weitere Produktion aus dem ewigen Fortsetzungsroman des historischen Genres Jazz Orgel Trio vor sich zu haben.
Sobald aber die Lesebrille korrekt justiert ist, stellt sich heraus, dass der entscheidende Faktor fehlt, und damit das ganze Projekt stilistisch ganz woanders anzusiedeln ist. Nicht die Hammond B 3 kommt hier zum Einsatz, sondern eine pipe organ; die deutsche Übersetzung legt eine Kirchenorgel nahe. Zumal Kit Downes aus Norwich/UK, inzwischen Berlin/D, discografisch mit einschlägigen Aufnahmen erfasst ist.
Gleichwohl, das Personal, ist es denn in den Blick genommen, überascht. Wer kommt auf die verwegene Idee, einen klassische Vertreter des FreeJazz-Schlagzeugs wie Andrew Cyrille mit Kit Downes und Bill Frisell zusammenzuspannen?
Es ist Sun Chung, ein früherer Mitarbeiter des Labels ECM, der von Cork in Irland aus Red Hook Records betreibt. Für ihn ist dieses Trio eigentlich eine label group, hat er doch von jedem der Beteiligten ein Projekt veröffentlicht, die meisten mit Andrew Cyrille.
Ungewöhnlich ist der Aufnahmeort, eine Kirche aus dem frühen 19. Jahrhundert, St. Luke in the Fields, in Greenwich Village, New York City. Die Musiker sitzen dort auf der Empore neben Kit Downes, mit Bill Frisell in der Mitte.
„Breaking The Shell“ empfängt klanglich nicht mit Raumeindrücken, wie man sie aus vergleichbaren europäischen Projekten in Erinnerung hat, St. Luke ist vergleichsweise klein, viele Vorort-Kirchen in Deutschland sind größer.
Mit dem opener „May 4th“ stellt Kit Downes zunächst das Instrument selbst vor, die Orgel mit 27 Registern und 1.670 Pfeifen: Klangflächen mit schwer definierbaren Tonhöhen, halb gezogene Register, sogar der Motor, der die Pfeiffen mit Luft versorgt, wird klanglich exponiert, die Anmutung ist eher „industrial“ und nicht einen Hauch sakral. Im letzten Drittel der drei Minuten intoniert Bill Frisell ein kurzes Thema, Downes folgt in einem hohen Register, die cymbals von Cyrille klingen weit weg.
Das reale Klangeschehen, die instrumentale Rollenverteilung, sie sind denkbar weit weg von der visuellen Metapher, die irgendjemand (wir haben es im Netz nicht mehr gefunden) aus ehrfürchtiger Begeisterung für treffend hält: dieses Ensemble sei ein Tetraeder, ein Körper mit gleichseitigen Dreiecken als Seitenflächen.
Auch der Begriff „elektronisch“ führt in die Irre, bloß weil die Klanggestalten eine solche Anmutung haben - eben dies macht in bestimmten Momenten den Reiz dieser Produktion aus.
Nach dem konventionell in jazzmusikalischem rubato gehaltenen „Untitled 2023“ (man mag, wie das Label es tut, das Thema für Monk-ish halten), folgt schon der klang-ästhetisch und klang-dramaturgische Höhepunkt des Albums: „Kasei Valles“, benannt nach einem System von Canyons auf dem Mars.
Egal, ob die Musiker diese knapp 5 Minuten live so gestaltet haben, wie wir sie hören, ob es Schnitte gab, overdubs - diese wall of sound steht einmalig da in den Klangcollagen des Jazz der Gegenwart. Wer was spielt bzw. wer welchen Sound auslöst (kommt dieser loop von der Gitarre oder der Orgel?), erscheint zweitrangig.
„El“, der Anschlusstrack, wirkt von der Positionierung her optimal. Die düster-dynamische Klangwand gibt nun quasi einen „Song“ frei, eine simple Melodie, die von Gitarre und Orgel eben nicht unisono, sondern zeitversetzt vorgetragen wird, dazu der bis dato deutlichste Einsatz von Andrew Cyrille, mit Besenfiguren (brushes).
Irjenswie mittendrin, wiederum schwer identifizierbar, muss die Klangspur des Cellos von Lucy Railton liegen; jedenfalls weisen die liner notes ihr einen solchen Part zu.
So wirksam die Positionierung dieser beiden tracks ist, für den Gesamtverlauf des Albums kommen diese Höhepunkte zu früh.
Schon in „Southern Body“ zerfällt das Trio in Einzelstimmen; Downes & Frisell gefallen mit ihren Sounds, Cyrille grummelt mit Paukenschlegeln auf den toms. Es fehlt jegliche Kohärenz.
„Sjung Herte Sjung“ bringt das Ensemble wieder zusammen, mehr noch als in der folgenden Ballade „Two Twins“ oder dem ungarischen Traditional. In „Proximity“ schließlich, seiner Ballade in einer gewissen proximity/Nähe zu Country & Western, bettet Andrew Cyrille, wiederum an den brushes, das Geschehen klanglich/rhythmisch sehr subtil ein.
Gelegentlich aber drängt sich doch die Frage auf: wie hätte Paul Motian (1931-2011), der Meister des melodischen, nicht-metrischen Schlagzeugspiels, eben diese Rolle ausgefüllt?
Seine Trioaufnahmen mit Bill Frisell und Joe Lovano vermitteln eine Ahnung davon.
erstellt: 18.11.24
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