Vincent Peirani & Subway Jazz Orchestra - Auf ins Neue (Jahr)

Das Subway Jazz Orchestra spielt das Neujahrskonzert 2024 in der Philharmonie Köln.
Angesichts der darin anklingenden Musiktopographie kann mancher den Impuls nicht unterdrücken, die beiden Spielstätten im Sinne einer Aufstiegsmetapher zu verklammern.
Und sie ist ja auch vordergründig nicht ganz falsch. Um die Domäne dieses Jazzorchesters zu betreten, muss man sich in der gleichnamigen Disco an der Aachener Straße in Köln tatsächlich ins Kellergeschoß begeben. In der Philharmonie führt der Weg zu den teueren Plätzen zwar auch zunächst nach unten… aber, hey, wir wissen doch alle, was gemeint ist.
Sein 10jähriges hat das SJO im vergangen Jahr mit Nils Wogram gefeiert, zwei Jahre zuvor hatte es Partituren von Maria Schneider auf den Pulten, in der Karnevalshochburg Sartory.

VincentPeirani SubwayJazzOrchestra04Das große und tiefe Halbrund der Philharmonie war nun knapp zur Hälfte gefüllt, das mögen an die 800 BesucherInnen gewesen sein. Und nur die wenigsten von ihnen dürften der Empfehlung von Stefan Karl Schmid folgen, im März die Big Band bei der Interpretation von Werken junger finnischer und estnischer Komponistinnen a.a.O. zu erleben. Wenn doch alle kommen wollten, dann müsse man sich am besten per e-mail anmelden, damit er die anfallenden Zusatzabende im Subway kalkulieren könne.
Auch Schmid hat hier also die Kölner Musiktopographie im Hinterkopf, verbunden mit der Erfahrung, dass man den Fokus sehr weit dehnen muss, um neue Interessenten in der Hauptsache zu gewinnen.
Und zu diesem herausgehobenen Anlass den französischen Akkordeon-Virtuosen Vincent Peirani als Gast zu bitten, war ganz bestimmt eine gute Idee.
Akkordeon kommt sowieso gut. Und wenn es in der Knopfversion dazu von einem solchen Sympathen bedient wird, ist mehr als die halbe Applausmiete garantiert.
Stefan Karl Schmid ist für dieses Projekt des ansonsten kollektiv agierenden Ensembles der temporäre Leader. Und nur mit ein paar frischen Neujahrs-Kölsch möchte man das Hochjazzen aus dem Programmheft verdauen:
„Ohne Übertreibung lässt sich wohl feststellen, dass das SJO so etwas wie die Speerspitze der modernen Big-Band-Bewegung in Deutschland bildet“.
Es war gut bis exzellent, es war abwechslungsreich, sehr unterhaltsam mit wenig Big Band-Klischees. Die Subway-Jungs (die Trompeterin Heidi Bayer stand im Programmheft, nicht auf der Bühne) kennen die lokale sowie die bundesweite Konkurrenz; kaum vorstellbar, dass einer von ihnen sich als Speerspitze (und das bedeutete ja: Avantgarde) verstehen würde.
Peirani steigt ein im zweiten Stück, der Bearbeitung eines isländischen Volksliedes durch den Deutsch-Isländer Schmid. Der gesamte Saxophonsatz leuchtet dunkel: 4 Klarinetten, 1 Flöte, das Akkordeon obenauf - perfekt gesetzt für diesen Raum.
Und eine Wohltat nach dem opener aus dem SJO-Repertoire; die Stimmen waberten durch den Raum, Solisten (und es gibt erstklassige an diesem Abend) hoben sich nicht von Ensemble ab. Später wird auch die schöne Standardsituation drum-solo gegen riff ihren Zweck akustisch verfehlen.
Nach der Pause wechselt die Jazzpolizei nach oben, auf die billigeren Plätze: das Klangbild eine Spur besser. Aber warum ein Trompetensolo verzerrt klingen muss (laut Arrangement), erschließt sich nicht; warum das E-Piano vom Pegel her über dem Akkordeon liegt, ein Technikfehler.
VincentPeirani SubwayJazzOrchestra02Die meisten Stücke stammen von Vincent Peirani.
Sein erstes mit tänzelndem Groove, indonesisch beeinflußt (er ist mit einer Indonesierin verheiratet), steht repräsentativ für das Folk-Flair in den meisten.
Er kann auch derb („Rock this new shit“) oder „Falling“, ein langsamer Bolero, der sich mächtig aufbäumt.
Natürlich hat er viele Solo-Kadenzen. Sie sind betörend, seine Fabulierkunst ergreift immer weitere Felder, „smile“ von Charlie Chaplin scheint auf, auch ein „Happy Birthday“ für seinen 8jährigen Sohn.
Man könnte sich vorstellen, dass er auf Zuruf (wie die Pianistin Gabriela Montero) auch Spontanvorschläge umsetzt.
Mitunter aber fehlt der Fokus, der Potpouri-Gedanke schlägt durch.
Nur ganz kurz, an zwei Stellen, verlässt er den Raum stabiler Tonhöhen und gibt zu erkennen, welch heulendes Brausen hinter den zahllosen Knöpfen auch wartet.
Insoweit bleibt diese „Speerspitze“ verborgen.
Zum Abschluß ein großes Hymnen-Thema, und in der Zugabe „Exit Music for a Film“ von Radiohead.
Standing ovations, zweimal.

 

Fotos: Hyou Vielz
erstellt: 02.01.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten