Merz Musik (2)

First things first: der Club Donau 115 in Berlin-Neukölln befreit sich aus der Umklammerung durch einen großen Freundeskreis eine Woche früher als geplant. Am 25. August öffnet er wieder für Konzerte.
Am Tag der Frohen Botschaft, 16.08.23, wird die Auslöserin des Kollateralschadens bei der cologne jazzweek gesichtet, im Auditorium.
Last not least berichtet die FAZ an diesem Super Wednesday über eine Studie zweier SoziologInnen („Pures Gefühl darf niemals siegen“, Seite N4) zu gewichtigen Aspekten auch dieser Affäre, die für viele wie Zielakkorde klingen: Awareness Teams, Safe Spaces.
10.5771 0340 0425 2023 2 big 1Die besprochene Studie „Awareness: Paradoxien eines Emotionsprogramms“ ist in der jüngsten Ausgabe der „Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft“ erschienen (Leviathan, 51. Jg., 2/2023, S. 300 – 324). Autoren sind Nadine Maser und Sighard Neckel aus dem Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Hamburg.
Ihr Paper zu beziehen ist weniger kostspielig als befürchtet, die Jazzpolizei hat es sich besorgt.
Es finden sich Sätze darin, die 1:1 auf die Berliner Affäre passen, zum Beispiel auf die an strikte Bedingungen geknüpfte Solidarität etlicher MusikerInnen mit dem Donau 115 und der daraus entstandenen, temporären Schließung:
„Praktiken, die aus der Abwehr erlebter Diskriminierung heraus entstehen, können zu Konsequenzen führen, die den eigenen Absichten entgegen-
stehen.“ 

Noch ein Beispiel?

„Sich für die Ausrichtung des eigenen moralischen Kompass ausschließlich am Strafrecht zu orientieren, ist Teil der strukturellen und kulturellen Gewalt, welche Täter*innen auf allen Ebenen noch immer schützt: im Freundeskreis und der Familie, im Arbeits- bzw. Hochschulumfeld, in der Medizin, im Gesetz, in der Justiz und der Vollstreckung, in unserer Gesellschaft“, behauptetFriede Merz.

Maser & Neckel beschreiben die Konsequenzen aus einer ähnlich bedenklichen Auffassung anlässlich eines Vorfalls in den Reihen der Berliner Initiative ´Deutsche Woh­nen & Co. Enteignen´, wo ein Sprecher 2021 in Folge einer behaupteten sexuellen Nötigung von der weiteren Kampagne ausgeschlossen wurde:
„Die hier ins Feld geführte Unverträglichkeit von Recht und Moral wird damit begründet, dass eine rechtliche Unschuldsvermutung und juristische Verfahren nur zu den ´in uns allen angelegten Täterschutzrefle­xen´ führten, die linken Grundsätzen widersprächen“.

Ihr Paper liefert einen Rahmen, der Anhaltspunkte für eine Reflexion bietet und damit das einstweilen nur affektive Reagieren der Jazzszene vielleicht ein wenig zur Abkühlung bringt. 
Die beiden Hamburger Soziologen bestreiten weder die Diskriminierung von Personen oder Gruppen entlang verschiedener sozialer Kategorien noch wollen sie die Reaktionen der Betroffenen bewerten. 

„Wir fragen vielmehr, ob das gewählte Mittel der Awareness tatsächlich tauglich ist, um Diskriminierungen zu bekämpfen.“

Das ist der zentrale Begriff in Merz´ Linie, allein in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 08.08.23 
 taucht er 15 Mal auf, meist in Verbindung mit der Forderung nach dem Einsatz einer Awareness Agentur.

Maser & Neckel sprechen von Awareness als einer „normativen Paradoxie“. 
Ein Kernproblem sehen sie in der „subjektiven Defintionsmacht“, zum Beispiel darin, wie es in einem Leitfaden der Initiative Awareness e.V. heißt: „dass nur der*die Betroffene entscheiden kann, ob eine Diskriminierung, eine Belästigung oder ein Übergriff stattgefunden hat“.

Derlei geschieht in Situationen, deren andere Beteiligte/Beschuldigte aber nicht gehört werden, zumal die Awarenessteams sich ohnehin nicht als „Party Polizei“ verstehen. Beteiligte Personen werden als Vertreter bestimmter sozialer Kategorien typisiert (die große Merz-Entourage tituliert den beschuldigten früheren Bassprofessor - von dem man noch kein Wort gehört hat - durchgängig als „Täter“).

„Awareness bewegt sich hier in einem Selbstwiderspruch, da sie in der Bekämpfung von Diskriminierung die Konstruktionsweise von sozialen Kategorien übernimmt, mit der typischerweise viele Arten von Diskriminie­rung ihrerseits operieren" (Maser & Neckel).

erstellt: 21.08.23
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