What you have missed: Bastian Stein Trio, Loft, Köln

Der Positionseffekt. Die Soziologie kennt ihn, die Psychologie.
Auch der Jazz: „Als Pianist kannst du auf einem Festival nicht (mehr) nach Keith Jarrett auftreten.“
Okay, die Aussage ist nicht mehr ganz frisch, ihr Autor unbekannt (bzw. wird nicht mehr erinnert), aber sie trifft ohne jedes Brimborium den Kern:
wie man hört & wie man bewertet, hängt wesentlich auch davon ab, was man zuvor gehört hat.
Die Jazzpolizei durfte am gestrigen Freitag den Positionseffekt in besonders ausgeprägter Form erleben.
Sie hatte sich in den Stadtgarten begeben, zum Abschlußkonzert einer kleinen Big Band, deren kreativer Kopf nach 6 Jahren das Interesse an diesem Format verloren hat. Zum Auftakt spielte sie ein Stück, in dem deutlich der Platz erkennbar wurde, den darin einst Peter Brötzmann als Gast eingenommen hatte.
Danach, in einer Addition wenig verbundener Einzelsoli, wandelten sich Stimmung und Anmutung auf der Bühne noch mehr von der Temperatur „Requiem“ in eine Ansammlung von 15 Trauerweiden.
Was ist der ästhetische Mehrwert eines Tenorsaxophonsolos in Zirkularatmung, wenn der schweigende Rest dazu verharrt in der Pose „Warten auf Godot“?
Pause nach nur 30 Minuten.
Was tun? Sich eine zweite Hälfte zumuten?
Für die „heute show“ & Böhmermann ist es noch zu früh.
Die Jazzpolizei flieht ins Loft. Bastian Stein Trio.
Bastian Stein Quartett   1In Ehrenfeld Treppe hoch, die schwere Tür aufgerissen: noch mal weniger Besucher (ganze neune) - aber musikalisch, dramaturgisch, gestisch der Eintritt in eine anderen Welt. Ein, soviel vorweg, ein geradezu paradigmatischer Jazzabend.
Der Schlagzeuger, James Maddren, lächelt nicht nur, er lacht. Er lacht lautlos. Er bringt damit sein Entzücken zum Ausdruck über das, was der Bassist, Phil Donkin, macht. Was er an Ideen vorgibt. Maddren lacht über Gelingendes.
Den Bandleader, den Heidelberger Wiener Bastian Stein, der in Köln lebt und jüngst in Berlin eine Professur für Jazztrompete hat, die Jazzpolizei gesteht voller Scham, sie hatte ihn bis dato nicht richtig auf dem Monitor.
Als Sideman schon, aber nicht als Bandleader. Sein Ton auf der Trompete ist schlank & klar, wenig fanfarenhaft, überhaupt nicht spratzig, frei von Geräuschbeimischung.
Seine Soli dienen der Form. Und die öffnet sich dafür an Stellen, wo man sie nicht unbedingt erwartet. Es gibt Zwischenthemen. Am Schluß zieht Stein zwei Stücke zusammen, und man  rätselt fiebrig eine Weile, ob man gerade eine Coda zu „Fantasia“ hört oder schon das Intro zum nächsten.
Ein anderes Stück gründet auf verschiedenen, nahen Intervallen, die immer wieder auf einen Grundton zurückspringen. An einer Stelle schimmert nur noch in Donkins Bass dieses patteren durch; die bassdrum von Maddren hat eine ähnliche Tonhöhe, er übernimmt den Rhythmus des patterns und baut darauf ein drum-solo. Laut, wie man es von ihm selten hört. Auch hieraus spricht die Lust des Gelingens.
Noch ist der wichtigste Parameter dieser Performance aber noch gar nicht erwähnt: die Interaktion.
Das Trio ist nämlich, im Gegensatz zur Ankündigung im Monatsprogramm, ein Quartett. Als Gast ist Sebastian Gille dabei, ein Hamburger in Köln. Und wie der sich exponiert, vor so wenigen Leuten, ohne nennenswerte materielle Gewinnerwartung, das müsste man dringend den Leistungsideologen der FDP vorführen.
Gille versinkt schon von der Köperhaltung her im jeweiligen Stück. Sein Ton, insbesondere auf dem Tenorsaxophon, klingt, als sei die Zuordnung seines Instrumentes in die Gruppe der „Holzblasinstrumente“ nicht wegen dessen Rohrblattmundstück erfolgt, sondern wegen des Korpus´.
Wie Stein und Gille miteinander formulieren, wie sie sich umranken, ist sowas von delikat. Getragen von einer Rhythmusgruppe, die nichts wiederholt, die Bewegung in zahllose Varianten fließen lässt.
Vier Stimmen, eine Form - es war hinreißend.
Und die Verblüffung will gar kein Ende nehmen, als man erfährt, dass dies für Sebastian Gille eine Premiere war!
„Ich habe mich doch nur bei denen ´reingehängt“.
Die wohl größte Tugend des Jazz, die große, die spontane Verständigungskunst von MusikerInnen, sie wird jazztheoretisch bekanntlich gerne an Standards exemplifiziert.
Alles gut & schön.
Dieser Abend zeigt (und es ist beileibe nicht der erste), dass mit Handwerk, Intuition und - gut beschriebenem Notenpapier auch andere Exzellenzcluster möglich sind.
Wie gesagt, ein geradezu paradigmatischer Jazzabend, wo die Repräsentanten dieses Genres aus dem Vollen von dessen Fundus an Techniken & Tugenden schöpfen.
Ein begeisternder Abend, yes folks, ohne den zeitgenössischen Jazzfetisch Nr. 1 - ohne Grenzüberschreitungen.

erstellt: 16.09.23
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