Jim Beard, 1960-2024

Jim BeardDass die Nachrufe auf ihn nun überschrieben sind mit „keyboardist for Steely Dan dies aged 63“ (Guardian) kommt nicht von ungefähr.
Seit 2008 stand er in deren, in Donald Fagens, Diensten, zuletzt im Januar dieses Jahres in Phoenix/AZ.
Ab Mitte der 80er bis in die 2000er Jahre gehörte er zur Grundausstattung des amerikanischen Jazzrock, angefangen bei Wayne Shorter („Phantom Navigator“), John McLaughlin und dem wieder erstarkten Mahavishnu Orchestra, Michael Brecker, John Scofield, Pat Metheny, Peter Erskine, mehrfach Mike Stern - you name them!
Ende der 80er legt er die ersten Tastenspuren für ein Talent, das die Eindrücklichkeit seiner frühen Jahre nie mehr erreicht hat: Vince Mendoza.
Kein Zufall, dass jener eine seiner besten Kompositionen, „Crossing Troll Bridge“, mit dem hypnotischen vamp-Thema (aus dem Album „Song of the Sun“, 1990) 2008 noch einmal mit dem Metropole Orchestra aufgeblasen hat.
2008, in der Rückschau kommt dem Jahr eine besondere Bedeutung zu, denn da bringt er unter „Pulse and Cadence“ und ausgewechselten Stücketiteln das famose „The Complete Rhyming Dictionary“ von 1992 neu heraus, die beste Handreichung für den Steely Dan-Kollegen und alten buddy aus gemeinsamen Zeiten an der Indiana University, den Gitarristen Jon Herington.
Dort hatte er Jazz bei David Baker und klassisches Piano bei John Ogdon studiert.
Die Konzentration von einem an etlichen Instrumenten interessierten Jugendlichen auf das Piano war zuvor in privaten Stunden bei George Shearing erfolgt.
Ein Mitschüler, der dem Meister gleichfalls über die Schulter schauen durfte, war … Fred Hersch.
Ab 1985 dann New York City; die folgenden zwei Jahrzehnte bringt  Peter Erskine in einem X-Nachruf so auf den Punkt:
„Jim war der Klebstoff und eine große Stütze bei so vielen Projekten.“
Er war ein keyboarder, ein Klangmaler, mit Flöten-haften Beimischungen, nicht unbeeinflusst hier & da von Zawinul, mit durchaus eigener Agenda, weniger ein Pianist.
Sanchez BeardIn den letzten Jahren hat er viel für TV & Film komponiert.
Der Kontakt zum Jazzrock riss nicht ab.
„Was für ein unvorhergesehener Verlust. Er war so eine sanfte Seele und ein wahnsinnig talentierter Künstler“.
Mit diesen Worten begleitet Antonio Sanchez einen Post auf X, mit einem Foto aus der Studiosession des kommenden Mike Stern-Albums, 2023, das ER produziert hat.

James Arthur „Jim“ Beard, geboren am 26. August 1960 in Ridley Park/PA, verstarb am 2. März 2024 in einem Krankenhaus in NYC
an einer nicht näher benannten, plötzlichen Erkrankung.
Er wurde 63 Jahre alt.

 

erstellt: 07.03.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

 

Stabwechsel in Darmstadt

Heute beginnt ihr Arbeitsvertrag, am Montag, 4.3.24, wird sie ihren Arbeitsplatz in Bessungen beziehen:
Bettina Bohle ist die neue Leiterin des Jazzinstitutes Darmstadt.
Knauer im InstitutSie folgt auf Wolfram Knauer, 65, der Ende Januar in den Ruhestand verabschiedet wurde. Er hat das Institut sagenhafte 33 Jahre geführt.
Nicht mehr nur im barocken Kavaliershaus, sondern lange schon auch in angemieteten Räumen, beherbergt es eine der größten öffentlichen Jazzsammlungen Europas:
„80.000 Tonträger, mit Fachliteratur, Fotografien (50.000 Abzüge), 3.000 Plakate, 1100 Zeitschriftentitel mit mehr als 80.000 Einzelheften“, wie die FAZ vorrechnet, darunter die Sammlungen der SWR-Jazzredakteure Berendt und Wunderlich.
Die Bessunger Str. 88d in 64285 Darmstadt ist aber nicht nur ein Container für Archivalien, sie gibt einem lebenden Organismus Dach, mit Konzerten im - der visuellen Anmutung zum Trotz - gut klingenden Gewölbekeller, einer wechselnden Künstlerresidenz, einer Gesprächsreihe sowie dem zweijährlichen Jazzforum (an anderen locations der Stadt).
Wie überhaupt Knauer das Institut weit über die Wissenschaftsstadt Darmstadt auch international bestens vernetzt hat.
In den von ihm organisierten Jazzforen konnte man der ersten Garde anglo-amerikanischer JazzforscherInnen zuhören (John Gennari, Tony Whyton, Krin Gabbard, Scott DeVeaux, Sherrie Tucker).
Er selbst, der 1989 in Kiel über das Modern Jazz Quartet promoviert wurde, hatte als erster Nichtamerikaner 2018 eine Gastprofessur an der Columbia University in NYC; er gehört zum Beratergremium einer Jazzreihe bei Oxford University Press, an der Universität Mainz unterrichtet er Jazzgeschichte.
Neben Künstlerbiografien (Armstrong, Ellington, Parker) hat er eine Geschichte des deutschen Jazz gestemmt („Play yourself Man“) und - er beabsichtigt, als nächstes noch ein paar Pfund draufzulegen.
33 Jahre, eine komplette demografische Generation, vulgo: mehrere JazzmusikerInnen-Generationen - das dürfte auch bei extrem verschärftem Fachkräftemangel seiner Nachfolgerin nicht vergönnt sein.
Bettina Bohle Direktorin Jazzinstitut by Lena Ganssmann 02 scaled e1708684203190 1200x0Bettina Bohle ist von Jahrgang 1981, sie hat Musikwissenschaft, griechische Philologie und Philosophie studiert, war Lehrbeauftragte für Musikwissenschaft an der Uni Hildesheim und und zuletzt involviert in den langjährigen Anlauf um eine House Of Jazz in Berlin.
In Darmstadt kann sie sich einen Beirat für das Institut vorstellen, sie will „auf die anderen Kunstsparten schauen, auf die Theaterszene zum Beispiel“, wie sie dem Darmstädter Echo verrät.
Und ja, auch sie hat Binsen im Gepäck, wie sie heute zum Morgengruß vieler JazzaktivistInnen gehören:
„Jazz und improvisierte Musik dürfen sich nicht von aktuellen gesellschaftlichen Themen abkapseln wie Diversität, Nachhaltigkeit und Rechtsruck.“
Ob sie die bis dato intellektuell in Bodennähe torkelnde Debatte auf Flughöhe bringen kann? Abwarten.
Eine erste Kostprobe jedenfalls, in dem vor drei Tagen erschienenen Band 18 der „Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung“, lässt Lesefreude aufkommen. Wohltuend, dass da endlich jemand ihren (Ludwig) Wittgenstein kennt und das Thema „Genre & Jazz“ in einer „sprachpragmatischen Annäherung an eine hitzige Diskussion“ cool auszuleuchten vermag.
Wo doch wenige Seiten zuvor ein essentialistischer Eiferer ausruft, wir befänden uns „in einem post-Genre Moment“ und seinen Hoffnungen ein „Ich fühle mich wohler damit…“ voranschickt.
Zu wünschen wäre auch, dass sie eine Handreichung ihres Vorgängers beibehielte oder (wie zu hören) vielleicht in anderer Form fortführte: die JazzNews, einen mitunter wöchentlichen newsletter, der sehr neutral auf Artikel zum Jazz verweist, mitunter bis hin zu amerikanische Provinzzeitungen.
Wie gesagt, Wolfram Knauer. Der hat im Ruhestand nicht weniger vor, als den Berendt zu geben, ja wirklich:
eine Geschichte des Jazz zu schreiben.
Hoffen wir, dass er nicht in einer Sisyphos-Arbeit verharrt.

Fotos: Lena Ganssmann (Bohle), Stephanie Castillo (Knauer)
erstellt: 01.03.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

Spenden für den genius loci von Peter Kowald (1944-2002)

ORT EingangCKarl HeinzKrauskopf„ort“, das ist das Haus in der Luisenstraße 116 in 42103 Wuppertal, Namensgeber des berühmten Luisenviertels (das es lange nicht mehr gäbe, hätte sich nach 1933 das Tausendjährige Reich behauptet, speziell mit seinen Autobahnplänen).
Gemeint ist das Hochparterre. Dort wohnte lange Peter Kowald (1944-2002), einer der Gründerväter des deutschen FreeJazz, der mit Abstand kommunikativste derer unter der international schimmernden Klangmarke sounds like whoopataal.
Der Kosmopolit, geboren in Thüringen, gestorben in New York City, hielt sich in der Wohnung 1995 ein ganzes Jahr auf, er blieb „365 Tage am Ort“, zu Zwecken einer inzwischen legendären Kunstaktion, für die er Künstler verschiedener Gattungen zu sich lud.
Seit seinem Tod feiert dort die Peter Kowald Gesellschaft/ort e.V. den genius loci, der sich mehr in der Freundlichkeit der dienstbaren Geister zeigt als in Erörterungen, inwieweit die jeweils auftretenden KünstlerInnen Schnittmengen mit dem Hausherrn verraten.
Schwerpunkt ist die Improvisation, soviel ist mal klar, aber es wird auch nach Noten gespielt, vulgo: Klassik. Und gelegentlich verehrt der nicht nur in Wuppertal, sondern wirklich weltberühmte Bildende Künstler Tony Cragg dem ort Werke, die sie an die Wand heften können.
2020 wollten seine Freunde das Wirken des früheren Hausherrn direkt befragen:
"25 Jahre nach Kowalds 365 Tagen am Ort – Wo sind wir heute? Wo wollen wir hin?“
Corona machte einen Strich durch die Planung.
Jetzt steht, neuer Anlauf mit anderem Schwerpunkt, sein 80. Geburtstag an - und jetzt stellt die Kassenlage die neue Feier in Frage.
Sechzehn mal ist der „ort“ in den letzten 12 Jahren ausgezeichnet worden, mit dem Spielstättenpreis NRW sowie dem bundesweiten Pendant Applaus.
2023 war deshalb Lobespause, „alle Fördertöpfe erleben einen Ansturm von Anträgen“ - was 2024 auf die Kasse durchschlägt. Das Kowald-Geburtstagsfestival am 19./20. April steht in Frage. Also besannen sich die Ortler einer guten alten deutschen Kulturtechnik: der Spende, die - zumal es sich hier um einen e.V. handelt - auch steuerlich günstige Spuren hinterlässt.
6.500 Euro sind angepeilt, 1.630 Euro sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt schon erreicht. Looks like Whoopataal!
Spendenlink
erstellt: 20.02.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten, Foto: Karl Heinz Krauskopf

Grammy Awards Jazz 2024

Best Jazz Performance
Movement 18' (Heroes)
 Jon Batiste
Basquiat Lakecia Benjamin
Vulnerable (Live)
 Adam Blackstone Featuring The Baylor Project & Russell Ferranté
But Not For Me
 Fred Hersch & Esperanza Spalding
TightSamara Joy

Best Jazz Vocal Album
For Ella 2
 Patti Austin Featuring Gordon Goodwin's Big Phat Band
Alive At The Village Vanguard
 Fred Hersch & Esperanza Spalding
Lean In Gretchen Parlato & Lionel Loueke
Mélusine
 Cécile McLorin Salvant
How Love Begins Nicole Zuraitis

Best Jazz Instrumental Album
The Source Kenny Barron
Phoenix 
Lakecia Benjamin
Legacy: The Instrumental Jawn 
Adam Blackstone
The Winds Of Change 
Billy Childs
Dream Box
 Pat Metheny

Best Large Jazz Ensemble Album
The Chick Corea Symphony Tribute - Ritmo
 ADDA Simfònica, Josep Vicent, Emilio Solla
Dynamic Maximum Tension
 Darcy James Argue's Secret Society
Basie Swings The BluesThe Count Basie Orchestra Directed By Scotty Barnhart
Olympians
 Vince Mendoza & Metropole Orkest
The Charles Mingus Centennial Sessions
 Mingus Big Band

Best Latin Jazz Album
Quietude
 Eliane Elias
My Heart Speaks
 Ivan Lins With The Tblisi Symphony Orchestra
Vox Humana
 Bobby Sanabria Multiverse Big Band
Cometa 
Luciana Souza & Trio Corrente
El Arte Del Bolero Vol. 2Miguel Zenón & Luis Perdomo

Best Alternative Jazz Album
Love In Exile Arooj Aftab, Vijay Iyer, Shahzad Ismaily
Quality Over Opinion Louis Cole
SuperBlue: The Iridescent Spree
 Kurt Elling, Charlie Hunter, SuperBlue
Live At The Piano Cory Henry
The Omnichord Real Book 
Meshell Ndegeocello

Best Contemporary Instrumental Album
As We Speak 
Béla Fleck, Zakir Hussain, Edgar Meyer, Featuring Rakesh Chaurasia
On Becoming
 House Of Waters
Jazz Hands
 Bob James
The Layers
 Julian Lage
All One
 Ben Wendel

erstellt: 05.02.24
©grammy.com, 2024.

Gratismut im Ländle

jazznotafdopen   1Ob die Stuttgart Jazz Open „in der Champion League der europäischen Jazzfestivals bleibt“, wie es der Lokalstolz einer Lokalzeitung befiehlt, das wird man außerhalb des Postleitzahlbereiches „7“ vermutlich weniger emphatisch unterstützen.
Und sich doch eher wundern, dass ein Festival, das zu seinem 30. Geburtstag mit Herbert Grönemeyer, Lenny Kravitz, Sam Smith und Sting protzt, überhaupt noch den Minderheiten-Gattungsnamen im Titel führt.
Doch, es gibt auch Jazz, und es hat auch Jazz gegeben in Stuttgart, z.B. bei der Premiere 1994 Ornette Coleman, Pat Metheny und auch John Scofield. Dee Dee Bridgeewater und Dianne Reeves waren je ein halbes Dutzend mal dort.
Und es ist ja auch nichts einzuwenden gegen ein Festival, das hinter den großen Pop-Acts Jazz so mitführt. 40.000 von 50.000 Tickets für den Juli 2024 sind bereits jetzt verkauft. Das sind Dimensionen, die keine einem strengeren Jazzbegriff verpflichtete Veranstaltung je erreichen könnte.
Ob Stuttgart Jazz Open jedoch Mut für sich beanspruchen darf, abgeleitet aus den vorgeblichen Standard-Jazztugenden wie „Freiheit, Mut und Toleranz“, das darf jetzt klar verneint werden.
Vielleicht aus Übermut hat die Festivalleitung sich zu einer Aktion hinreißen lassen, die nichts anderes offenbart als Gratismut, gespeist aus einer großen Portion Naivität.
Die Frage nach dem Erfolg der Aktion, wieviele der Gemeinten ihre Tickets zurückgegeben hätten, bleibt - selbstverständlich - unbeantwortet. Dafür wogt in den (a)sozialen Medien ein noch mal naiveres Pro & Contra, von dem ein Großteil wieder gelöscht werden musste.
Wer sich derart auf Glatteis begibt, der muss dann auch noch Hohn ertragen: ein Vertreter der entsprechenden Landtagsfraktion belustigt sich laut Stuttgarter Zeitung über die Vorstellung,
„dass AfD-Anhänger freiwillig einem feisten Bekenntnis-Gröler wie Herbert Grönemeyer lauschen werden“.
„In der Champion League der europäischen Jazzfestivals“ wird eine so wenig durchdachte Aktion hoffentlich eine einmalige Episode bleiben.

*PS (30.01.) Jazz Open antwortet per email: "Uns ist nicht bekannt, dass bisher jemand sein Ticket zurückgegeben hätte."
Und: "´Champions League der Jazz-Festivals´ – da sind wir selbst erschrocken. Würden wir nie behaupten. Was wir – ernsthaft – behaupten ist: Wir gehören zu den europäischen Top-3-Festivals für Jazz and Beyond."
Last not least: "Bin ein bisschen durch Ihre Website gesurft. Hab mich köstlich amüsiert. Schön, dass es sowas gibt" (Rainer Schloz, Pressesprecher Stuttgart Jazz Open).

erstellt: 26.01.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten
 

Brötzmann remembered


Brotzmann Cafe Oto   1

 

Die Nachrufe waren zahlreich, ja.
Aber wer hätte dies zu prognostizieren gewagt?
Ende September 2023 drei Tage in Wuppertal („BROEtz 2023!“);
Mitte Dezember ein Tag in Chicago (unter dem Motto „na ja“, dem bei ihm oft gehörten Füllwort);
Anfang Februar „3 Days of Music dedicated to Peter Brötzmann“ im Cafe Oto, London
(wo er im Januar 2023 sein letztes Konzert gegeben hat);
später in diesem Jahr ein Festival in Warschau.
Nicht zu vergessen Rhizome Park, ein Quartett deutscher Musiker, das im April zu einer kurzen Tournee antritt und seine z.T. langjährigen Verbindungen zu Peter Brötzmann unter dieser Wurzelnetzwerk-Metapher eher verbirgt.
Das Motiv dieses Projektes aber ist ähnlich dem aller anderen: Hommage, Respekt, Verbeugung vor einem verstorbenen großen Künstler.
Wer den Kreis der Teilnehmenden beleuchtet, stößt auf eine bemerkenswerte Streubreite; in Chicago und London, später wohl auch in Warschau, sind es die überwiegend diejenigen, die man seit Jahren mit der Brötzmann-Ästhetik in Verbindung bringt.
„BROEtz 2023!“ scherte aus, und als Biennale wird es auch als „BROEtz 2025!“ nicht ausschließlich keepers of the flame präsentieren.
So wie auch kaum bekannt ist, dass die Rhythmusgruppe von Rhizome Park (Dieter Manderscheid, b, Frank Samba, dr) den Verehrten auf dem Album „Danquah Circle“ (2002) in einen erfrischend anderen Kontext gestellt hat.
Die musikalische Brötzmann-Rezeption kann dadurch nur gewinnen - auch wenn einige unter den Altvorderen sich diesbezüglich eher für die Gerechtfertigten halten.

 

Plakat: Klaus Untiet, Wuppertal, unter Verwendung eines Kunstobjektes von Peter Brötzmann
erstellt: 25.01.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten
 

 

 

 

Tony Oxley, 1938-2023

Tony OxleyLondon, Nähe Holland Park, ein Club, The Albion, eigentlich die Lounge einer großen privaten Villa, September 1970: das Howard Riley Trio spielt Stücke aus seinem neuen Album „The Day will come“.
Schlagzeuger im Studio, wenige Monate zuvor, war der damals in London omnipräsente Alan Jackson. An diesem Abend übernimmt den Job ein anderer. Bevor er Platz nimmt, kündet schon der drum set von einer anderen Gangart. Jacksons set war spartanisch, hier aber stand ein deutlich erweiterter: über den Hängetoms eine Art Brücke wie aus einem (Erwachsenen) Märklin-Baukasten, daran geklemmt Utensilien, die der Instrumentenfachhandel überwiegend nicht in seinem Sortiment führt. Die Anmutung geht eher in Richtung Schrottplatz.
So anders der Aufbau, so anders der Klang, so alternativ die Strukturen. Der Drummer sitzt erhöht, er verstreut seine Energien über den ganzen set, ohne merklichen Aufwand. Der mimische und gestische Aufwand mancher Kollegen („bin bei der Arbeit!“) ist ihm völlig fremd.
Viele Jahre später wird er dem Journalisten Bert Noglik seine Spielhaltung in einem Satz diktieren, die ihn schon an diesem Abend leitmotivisch führt:
“I consider myself more a percussionist, in contrast to a jazz drummer who keeps time“.
Im Gegensatz zu manchen seiner Zunft konnte er letzteres aber auch. Der beste Beleg dazu war damals ein gutes Jahr alt: das im Januar 1969 entstandene „Extrapolation“-Album, das Debüt eines jungen Gitarristen namens John McLaughlin, darin die genaues Timespiel erforderlichen 11/8 von „Arjen´s Bag“ oder die 9/8 von „Binky´s Beam“.
Im Prinzip fuhr er schon seit ein paar Jahren zweigleisig: seit 1966, als er aus dem heimischen Sheffield nach London gekommen war. In Sheffield hatte er im legendären Joseph Holbroke Trio frei improvisiert (mit Gavin Bryars, b, und Derek Bailey, g). In London setzte er diese Praxis fort, u.a. mit Evan Parker - und wurde zugleich housedrummer im Ronnie Scott´s Club.
In dieser Funktion begleitete er, und zwar nicht nolens volens, durchreisende US-Stars wie Stan Getz, Sonny Rollins, Joe Henderson, in den frühen 70ern auch Bill Evans.
Diese streckenweise Parallelität, Modern Jazz hier, FreeJazz dort, dürfte einmalig sein unter den Gründern der europäischen Jazz-Avantgarde, allenfalls bei Manfred Schoof dürfte sich verwandte Spuren gezeigt haben.
Und nur Han Bennink (mit dem ihn drum-ästhetisch wenig verbindet) dürfte mit einer ähnlichen Erzählung aufwarten können, was es heißt, von Europa aus mit dem Schiff in die Staaten zu fahren, um dort die Legenden des Jazz an der Quelle zu studieren.
In seinem Falle war es die Queen Mary, wo er in der Tanzkapelle on board Dienst tat.
Zuvor hatte er, Ende der 50er Jahre, in der Britischen Armee, im 3rd Batallion of the Scottish Regiment, auf andere Weise das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden: dort lernte er neben military drumming auch Musiktheorie.
Die war ihm in der Beschäftigung mit der Klassischen Europäischen Avantgarde nützlich, sicher auch in seinen Kompositionen, wohl weniger bei 12 Alben an der Seite von Cecil Taylor.
Damit wäre die nächste, die wohl größte Volte seines Lebens beschrieben. Nach Amerika übersiedeln, auf Wunsch von Bill Evans, das wollte er nicht - mit Cecil Taylor spielte er 20 Jahre lang hüben & drüben,  in Neuburg am Inn ebenso wie im Village Vanguard in New York City, und viel dokumentiert in Berlin.
cover oxleyIn den letzten Jahren reiste er aus Viersen an, er lebte dort, seit 2000 mit einer Deutschen verheiratet, auf Anraten des Bassisten Ali Haurand (1943-2018), der ihm nicht unbedingt kongenialer Partner, aber für ihn erfolgreicher Organisator war.
Oxley betätigte sich auch in der abstrakten Malerei, er erweiterte seinen spezifischen drumset zuletzt auch mit elektro-akustischen Mitteln.
Ein Produkt, bei dem beide Tätigkeiten zusammenfließen, dürfte das wenige Wochen vor seinem Tod veröffentlichte Album „the new world“ sein, zusammen mit dem Perkussionisten Stefan Holker.
2011 veröffentlichte der WDR-Jazzredakteur Ulrich Kurth (1953-2021), quasi nach Zuruf ("hey Uli, why don´t you write my biography?"), selbige über ihn: "The 4th quarter of a triad".
Tony Oxley, geboren am 15. Juni 1938, in Sheffield, West Riding of Yorkshire, ist am 26. Dezember 2023 in Viersen am Niederrhein verstorben. Er wurde 85 Jahre alt.

 

Foto: Andy Newcombe (Wikimedia), 2006
erstellt: 27.12.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

 

Monheim Triennale II, The Prequel 2024

Die Monheim Triennale - man kann es nicht oft genug sagen - gehorcht nicht der Zeitangabe in ihrem Namen: sie findet keineswegs alle drei Jahre statt, vielmehr „eine Monheim Triennale erstreckt sich jeweils über drei Jahre.“
Und da muss man fein auseinanderhalten: die Triennale selbst, aktuell die Version II, sie findet erst 2025 statt.
Die erste Vorstufe dazu liegt bereits hinter uns, „The Sound“ im Juni 2023.
Die nächste Stufe, „The Prequel“, wird vom 4. bis 6. Juli 2024 gezündet.
Dann treffen 16 Signature-Artists erstmals aufeinander. Sie lernen sich dort kennen, „sie sammeln Eindrücke und lassen sich für ihre Signature-Projekte inspirieren – und natürlich stellen sie sich mit gemeinsamen und Solo-Konzerten vor.“
Sie verabreden die Projekte, bis hin zu Orchesterformaten, die dann 2025 die Hauptsache, die Triennale II, ausmachen werden.
Die Künstler 2024/2025 sind nominiert, nicht von Festival-Intendant Reiner Michalke allein, sondern gemeinsam mit einem fünfköpfigen, internationalen Kuratorium.
Artists Triennale 2024 Prequel   1Unter den 16 Künstlern ist einer aus den Stufen der Triennale I mit dabei, der in Monheim quasi ubiquitäre Shahzad Ismaily (NYC); die in Georgien geborene, in Holland lebende Klangkünstlerin Anushka Chkheidze kennt man aus „The Sound“ 2023.
Peter Evans hingegen, experimenteller Trompeter aus NYC, ein wohlvertrauter Gast aus Michalkes Stadtgarten- und Moers-Zeiten, wird erst 2024 seine Monheim-Festival-Premiere haben.
Terre Thaemlitz war schon für 2021 eingeplant, aber wegen Krankheit verhindert. Die Multimedia-Produzentin (untere Reihe, 2. v.l.) dürfte - unter dem Aspekt „diversity“ - die auffälligste, außermusikalische Agenda verfolgen.
Bei deren näherer Bestimmung wechselt die Monheim-Webseite nicht nur die Personalpronomina, sondern zieht auch einen Begriff aus der Kernreaktortechnik heran:
„Ihr entschlossenes, tiefgehendes Engagement in der Kritikalität macht ihn zu einem nicht einfach zu thematisierenden Sujet, da sie den Vermittler unerbittlich dazu zwingt, alle Vorurteile und Annahmen zu hinterfragen.“
Dass dieser Zwang dem Eigentlichen, dem Hören von Musik, nicht zwingend förderlich sein muss - Stadtgarten-Konzertgänger erinnern sich an einen Thaemlitz-Auftritt vor etlichen Jahren, bei dem dem ersten Ton eine Rede von der Dauer eines ganzen sets voraufging.
Ob Terre Thaemlitz 2024 mit Heiner Goebbels kooperieren wird?
Dieser Künstler hat die Siebzig überschritten, er ließe sich mit allem, was das zeitgenössische Vokabular vorhält, anrempeln. Aber, hey, vielleicht werden die aufgeregten Stimmen angesichts eines Lebenswerkes, das einen unfassbaren Rahmen umspannt (Jazzmusiker, Brecht/Eisler-Interpret, Musiktheaterkomponist, Festivalintendant, Universitätsdozent) aus Respekt vor diesem sich selbst von Anfang an auf Stumm schalten.
Heiner Goebbels dürfte nicht nur die prominenteste, sondern auch die gewichtigste Signatur in Monheim hinterlassen.
Goebbels ist lange nicht mehr Jazz, Peter Evans schon noch, ebenso der New Yorker Saxophonist Darius Jones mit eigenwilliger Notation & Intonation, und die Kölner Posaunistin Shannon Barnett ganz sicher.
Das macht Jazz noch nicht zur dominanten Farbe, und das ist in Monheim auch gar nicht beabsichtigt. Das Festival erschließt sich ein Zeitgenossentum, das im vorhinein gar nicht und vielleicht auch im nachhinein nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen ist. (Warum auch?)
Es gibt - auch das eine grobe Vereinfachung - eine große Abteilung für Electronica & breakbeats (Ludwig Wandinger, Rojin Sharafi sowie Muqata’a, geboren Ramallah).
Der Publikumsliebling - und hier fällt eine Prognose nicht schwer - dürfte Brìghde Chaimbeul werden, mit „experimeneller keltischer Musik“. Irland-Fans werden nicht genug davon bekommen.
Das vollständige Programm hier.

erstellt: 07.11.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Shakti am Tiny Desk

Nein, es ist nicht der Lotussitz, den John McLaughlin bei seiner Teilaneignung der süd-indischen Musik einnimmt, es ist der Schneidersitz (in der Yorkshire-Variante).
Respekt. Welcher ältere weiße Mann wüsste im Alter von 81 Jahren diese Position unfallfrei einzunehmen - und obendrein die elektrische Gitarre so virtuos einzusetzen?
John McLaughlin und die jüngste Version von Shakti bei National Public Radio (NPR), beim berühmten Tiny Desk Concert. Das ist die nähere Umgebung des Schreibtisches von Bob Boilen, Radiomoderator am NPR-Hauptsitz in Washington, D.C.
Die Show ist 2008 per Zufall entstanden; seitdem reißen sich Stars & Sternchen darum, an dieser location aufzutreten.
Jazzvertreter sind eher selten darunter, etwa einmal im Jahr, zuletzt Chick Corea & Gary Burton (2016), Ravi Coltrane (2017), Nicolas Payton (2018), Miguel Zenon (2019) Terri Lyne Carrington (2020) - ach, schauen Sie doch selbst nach.

erstellt: 30.10.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Carla Bley, 1936 - 2023

Steve Swallow Carla Tod   1

Im Spätsommer 2018 hatte die Nachricht bereits ein Vorecho; da war sie 82 und musste sich einer schweren Hirnoperation unterziehen. Eine Europa-Tournee wurde abgesagt.
Die Nachricht klang sehr beunruhigend, Nachrufe wurden erwogen; niemand hätte die Prognose gewagt, sie schon im Mai 2019 wieder auf deutschen Bühnen zu sehen (z.B. im Stadtgarten, Köln).
Die Konversion von Lovella May Borg in Carla Bley, in eine der bedeutendsten Autorinnen von Jazzstandards (auch jenseits ihres Geschlechtes), sprich KomponistInnen, ist ein Jazzmärchen der Extraklasse.
Und fast alle, die davon wissen, können auch den Prinzen benennen, der die Tochter eines Klavierlehrers aus Oakland/CA, die spätere Zigarettenverkäuferin im „Birdland“, New York City, ja sicherlich auch (wach)küsst.
Vor allem lockt er sie mit der Aufforderung in das neue Reich, „Ich brauche sechs neue Stücke für morgen!“
Richtig, das war der schreibfaule Pianist Paul Bley (1932–2016), in der Folge ab 1957 ihr Ehemann für zehn Jahre.

„Cigarette girl“, das klingt heute sowas von outdated und unterkomplex. Und tatsächlich war es für die junge Frau auch nur Mittel zum Zweck, die Jazzmusik am Ort ihres Entstehens einzuatmen. Denn als Paul Bley, der Pfeifenraucher, ihr ein Päckchen abkauft, war sie bestens vorbereitet. Mehr als alle anderen hatte sie im Birdland, im Basin Street und in der Jazz Gallery Count Basie (1904-1984) gehört:
„Er ist die letzte Instanz, wenn es darum geht, wie man zwei Noten spielt. Der Abstand und die Lautstärke zwischen zwei Noten ist immer perfekt.“
Es wäre übertrieben, die Schlichtheit ihres Klavierspiels auf Basie zurückzuführen (schon gar nicht verfügte sie über dessen timing), aber es liefert eine schöne Überleitung zu ihrer diesbezüglichen Selbsteinschätzung als „composer pianist“ (worin sie denn doch, bei ganz anderem output, viel eher Gil Evans ähnelt).
Zwar hat sie in ihren Veröffentlichungen immer auch Klavier gespielt, und vermehrt in den letzten beiden Jahrzehnten, eher kammermusikalisch im Trio (mit Andy Sheppard, ts) und immer mit ihrem dritten und längsten Lebens- und Musikpartner Steve Swallow (32 Jahre waren die beiden zusammen, ach was, das darf man wohl sagen, einander wirklich zugetan).
Ihren Platz in der Jazzgeschichte hat sie, siehe oben, als Komponistin.
Der britische Komponist (und gelegentliche) Bassist Gavin Bryars, der in den 80ern Stücke von ihr mit Freude in der Leicester Bley Band gespielt hat, schreibt dazu 1997 in einem Magazinbeitrag:
„Sie fühlt sich wohl mit Spielern, die begabte freie Improvisatoren sind. Es gibt viele Stücke, bei denen die scheinbare Schlampigkeit - in Wirklichkeit kalkuliertes Chaos - eine direkte Folge ihres kompositorischen Witzes und ihrer scharfen Beobachtung der Möglichkeiten für Exzess und Parodie ist.“
Ihre Stücke zu spielen sei „eine Herausforderung und zugleich eine der erfreulichsten Erfahrungen“ seines Lebens gewesen. Und Bryars vergisst nicht, auf „ihre Verwandtschaft zu gewissen Aspekten bei Kurt Weill“ hinzuweisen.
Ethan Iverson, der wohl hör-erfahrendste unter den heutigen Jazzpianisten, ist vor nicht langer Zeit im Gespräch mit ihr noch weiter zu den Kernen vorgedrungen.
Sie, die von Hause aus der Kirchenmusik kam, zählte sich nicht zum FreeJazz. Sie mochte vieler seiner Exponenten, wenn auch nicht ihr häufiges Herumlärmen, sie mochte darunter insbesondere den schwarzen Kirchenmann Albert Ayler:
„Maudlin! Rührselig auf die wunderbarste Weise. Er gab mir die Lizenz, etwas zu spielen, das wirklich kitschig war - und es zu lieben.“
Und wir als Hörer entnehmen daraus die Lizenz, dieses Motto auf vieles entlang ihrer langen Karriere zu beziehen; mitunter weniger Gelungenes, weil Langweiliges (insbesondere in den späten Trios mit Andy Sheppard), aber eben auch viel, viel Memorables, Bestgelungenes in sehr, sehr unterschiedlichen Formaten.
Das gilt natürlich für Paul Bley, früh auch für Gary Burton (A Genuine Tong Funeral“, 1968, worin auch „Sgt. Pepper“ hineingeflossen sein soll); dann ihre Großprojekte, das Jazz Composers Orchestra und „Escalator over the Hill“ mit ihrem zweiten Ehemann Michael Mantler. Hier lugt auch Charles Ives durch.
Dann die unzähligen Projekte mit ihrem kongenialen Partner und Bassisten Steve Swallow über mehr als drei Jahrzehnte.
Mitunter schien sie dabei dem Brecht´schen Motto zu folgen: „In mir habt Ihr eine, auf die könnt Ihr nicht zählen.“
Zum Beispiel Mitte der 80er, als sie mit drei Alben auf das Radioformat „Quiet Storm“ zielt („Sextet“, 1987, „Night Glo“, 1985, „Heavy Heart“, 1984) - ein, man scheut es auszusprechen, Schmusejazz-Format.  Da waren einige doch leicht indigniert, unter ihnen ihr langjähriger Vermarkter Manfred Eicher.
Hier kommen wir aber mit Gavin Bryars überein: „Lawns“ von „Sextet“ ist „one of the most poetic of all Carla’s pieces“.
Eben. „Lawns“, das die Bittersüße ihrer Musik sowas von auf den Punkt bringt, mit einem dahingetupften Piano-Solo von Larry Willis (1942-2019) - und dann hoch-katapultiert von den Gitarrenschreien eines Hiram Bullock (1955-2008) zu „Healing Power“.
(Es läuft auch jetzt wieder).
Carla Bley, geboren als Lovella May Borg am 11. Mai 1936 in Oakland/CA, ist am 17. Oktober 2023 zu Hause in Willow/NY verstorben. Sie erlag einem Gehirntumor, der bei ihr 2018 diagnostiziert worden war. Sie wurde 87 Jahre alt.

PS: weiterführend links
      Vinnie Sperrazza über die Schlagzeuger von Carla Bley
      Der britische Pianist Liam Noble über Carla Bley
      Carla Bley "Accomplishing Escalator over the Hill"
      Carla Bley down beat-Interview 1978

erstellt: 17.10.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Wolfgang Engstfeld, 1950 -2023

engstfeld wolfgang apr 18 live„…für die Entwicklung des straight ahead Jazz im Land von großer Bedeutung“,
schreibt der Saxophonistenkollege in der mail, mit der er uns dessen Tod mitteilt.
Man mag sich über die Terminologie streiten, fragen, ob nicht Hardbop zutreffender wäre oder auch Modern Jazz, was in seiner Umgebung selbst gebraucht wird.
Allein, das sind Varianten ein und derselben Sache, die unter Hinzufügung „Einfluß von John Coltrane“ einer exakten Lokalisierung recht nahe kommen.
Der Mann stand in der Mitte des Jazz, nicht an seinen Schnittstellen.
Obwohl, ganz am Anfang seiner Karriere, in den frühen siebzigern, bei Jazztrack,
bewegte sich das Quintett mitunter auch an der damals neuen Schnittstelle des Rock.
Anfang der 80er beginnt er die Kooperation mit einem Partner, dem Schlagzeuger Peter Weiss, die zunächst über ein Trio, später und längstens in einem Quartett schließlich „fourty years“ (CD-Titel von 2011) währt.
Er hat die Welt gesehen, 850 Jahrfeier Moskau, Japan, China, Australien, aber auch Brasilien. Hat mit Prominenz gespielt, von John Scofield bis Eberhard Weber, mehrfach mit dem stilistisch eng verwandten Randy Brecker (z.B. "Together", 1991).
Und doch ist der Lokalstolz nicht ganz falsch, den die Rheinische Post in ihrem Nachruf so beschreibt: „…(er) vertrat Düsseldorf in der Welt“.
Da will nun gar nicht in die überkommene Rheinschienen-Folklore passen, dass dieser Düsseldorfer 24 Jahre lang eine Professur für Jazzsaxophon an der Musikhochschule Köln innehatte, ja sogar der erste dort auf diesem Posten war.
Durchaus Pilot-Charakter dürfte auch haben, dass er - was heute normal ist - in den Jazz nicht aus einem „normalen“ Beruf geflohen ist, auch nicht aus der Klassik konvertiert, sondern das Rüstzeug sogleich an einer Hochschule erworben hat, an der ersten ihrer Art in Europa, in Graz.
Wolfgang Engstfeld, geboren am 9. Dezember 1950 in Düsseldorf, ist ebendort am 18. September 2023 einer Krebserkrankung erlegen. Er wurde 72 Jahre alt.

Foto: Gerhard Richter (Wolfgang Engstfeld, 2018)
erstellt: 18.09.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

John Marshall, 1941-2023

„You didn´t look like a drummer to me“.
Mit diesem Ausdruck des Erstaunens entschuldigte sich in den frühen sechzigern der Trad-Jazz-Star Acker Bilk bei seinem Aushilfsdrummer, er habe ihn im Bandbus auf der Hinfahrt zu einem gig nicht hinreichend beachtet.
Verwechslungen hinsichtlich seines Nachnamens waren dem Übergangenen mehr vertraut. Allein in seiner Klasse an der Isleworth Grammar School saßen neben ihm zwei weitere Marshalls. Und samstags nahm er Schlagzeug-Unterricht bei - Jim Marshall (yes folks, von Marshall Amps).
Später sollen ihn panische Anrufe erreicht haben, wie schnell er ins Studio XYZ eilen könne - man hatte den falschen John Marshall gebucht. Den Posaunisten.
Mitteleuropäischen Jazzfreunden dürften derlei Anekdoten fremd vorkommen. Für sie war John Marshall seit den späten sechzigern eine geradezu ikonografische Erscheinung: mit seinem Schnauzbart und ausgreifender Haartracht, damals „Papuabombe“ genannt (ein pflichtschuldiges pfui an dieser Stelle). Und in der Hauptsache als geschäftiger Drummer, der ab Nucleus “Elastic Rock“ (1970) und Soft Machine „Fifth“ (1971) den britischen Jazzrock angeschoben hat wie kein zweiter Kollege.
soft machine bundles sw

 

 

 

 

Soft Machine "Bundles", 1975
John Marshall, oben rechts


 

In einem sehr ausführlichen Interview schildert er 2019 die stilistische Volatilität jener Epoche:
„Ich war sehr anpassungsfähig, mochte vieles und konnte mit so gut wie jedem spielen, was fantastisch war. An einem Abend in der Trad Band von Acker Bilk, am nächsten mit John Surman in Ronnie's 'Old Place' und am übernächsten Abend begleitete ich eine Sängerin in dem neuen Club in der Frith Street. Ich habe sogar mit Indo-Jazz Fusions vor 250.000 Zuschauern auf dem Isle of Wight Festival 1970 im selben Programm wie Bob Dylan gespielt.“
Isle of Wight, möchte man ergänzen, da war auch Miles Davis; und in seiner Band ein Musiker mit verwandter Haarpracht, den nicht ganz unbekannte Afroamerikaner wie Quincy Jones und Ornette Coleman deshalb - und irrtümlich - für einen der ihren gehalten haben, Keith Jarrett.
Vor derlei Verwechslung, auch in stilistischer Hinsicht, war John Marshall gefeit. Bei Jack Bruce, bei Eberhard Weber Colours, lange bei John Surman, bei Hugh Hopper, Michael Gibbs oder auch Vassilis Tsabropoulos hat man ihn weniger in afroamerikanischer Expression erlebt, schon gar nicht funky, sondern als einen mächtigen, bisweilen auch lauten Jazzschlagzeuger mit großer Affinität zu Rock-Rhythmen.
Sein mit Abstand längstes Engagement, über fünf Jahrzehnte, mit Unterbrechungen, hatte er mit Soft Machine. Im Januar 2023 übergab er den Posten an Asaf Sirkis.
Am jüngsten Album „Other Doors" im Sommer 2022 hat er noch mitgewirkt. Er litt offenkundig an Osteoporose (Knochenschwund).
SoftMachine2023

 

 

 

 

 


Soft Machine, 2022
John Marshall, links

John Stanley Marshall, geboren am 29. August 1942 in Isleworth/West-London, ist am 16. September 2023 zu Hause, in Süd-London, verstorben. Er wurde 82 Jahre alt.

 erstellt: 17.09.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten