FREDERIK KÖSTER Die Verwandlung ********

01. Yard Sale (Köster), 02. Highway Man,03. Tief in den Wäldern ihres Herzens, 04. Tengo, 05. Die verlorene Zeit, 06.Das Streben nach Erleuchtung, 07. Occupy X, 08. Naoko, 09. Gleitflug, 10. Guru/Night Gleam (T: Ginsberg, M: Köster)

Frederik Köster - tp, loops, Sebastian Sternal - p, Joscha Oetz - b, Jonas Burgwinkel - dr, Tobias Christl - voc (10)

rec. 13.+14.07.2012
Traumton 4585, LC 05597

Es kommt selten vor, dass der Titel eines Albums seinen Inhalt korrekt bezeichnet, oder - wie in diesem Falle - den Prozess, den Weg dorthin.
Konkret, auf dem Wege vom WDR Jazzpreis 2010 zum Westfalen-Jazzpreis 2013 hat eben diese „Verwandlung“ stattgefunden. Man glaubte kaum seinen Ohren zu trauen, als Frederik Köster, geboren 1977 in Olsberg/Sauerland, seit 2007 Professor für Trompete an der Hochschule Osnabrück, im Umkreis des WDR-Jazzpreises zu früh mit zu schwerem Lorbeer behängt, im Januar 2013 mit diesem Quartett die Bühne der städtischen Bühnen Münster betritt.
Eine deutsche Jazz-Combo mit amerikanischem Jazz-Appeal!
Der Bandleader, wie ausgewechselt, als Trompeter flüssig und elegant. Der zweite WDR-Jazzpreisträger in dieser Band, Sebastian Sternal, frei vom suchenden Gestus, von den Romantizismen seiner eigenen Projekte.
cover-kosterFast Forward: track 5, „Die verlorene Zeit“, ein völlig falscher Titel für das, was hier abgeht. Wir lehnen uns weit aus dem Fenster: einen solchen VAMP hat vermutlich niemand zuvor in der deutschen Jazzgeschichte produziert.
Der Hauptgrund dafür liegt in der Präsenz von WDR-Jazzpreisträger Nummer 3 in dieser Combo, Jonas Burgwinkel. Der promoviert mit seinem Talent bekanntlich zahllose Produktionen, hier kommt er mit einem Detail heraus, das er zuvor noch nicht in dieser Qualität präsentiert hat: drum fills (das „Auffüllen“ der Reste eines Taktes bis zur nächsten „Eins“, mit möglichst abenteuerlichen Figuren, die den Eindruck erwecken, er lande nicht punkt 12 auf der „Eins“).
Die Visitenkarte für diese Technik ist gleich das zweite Stück „Highway Man“. Das Stück basiert auf und beginnt mit einem Baß-ostinato a la Herbie Hancock zu Zeiten seines Sextetts, Anfang der 70er Jahre (rhythmisch- und intonationsicher: Joscha Oetz). Köster spielt absolut brillant, ein „Thema“ ist kaum zu erkennen, es geht vielmehr um einen kollektiven Aufstieg zu einem crescendo, bei dem alle außer dem Bassisten alles tun, um aus dem vamp aus- und wieder einzusteigen - grandiose Interaktion, Jazzrock, ohne dass „Jazzrock“ draufsteht!
Wie gesagt, das nächste Hochplateau dieser Art ist „Die verlorene Zeit“.
Man lasse sich nicht von den Titeln täuschen. Sie zeugen - gottlob! - nicht von deutscher Innerlichkeit, sondern von den literarischen Bezügen des Komponisten auf der Suche nach Überschriften.
Wer etwa verbände den offenen funk und die fills von track 6 mit dem „Streben nach Erleuchtung“? „Occupy X“ mit seinem Latin-Charakter wäre als Begleitmusik zum Campieren vor Finanzinstituten ebenso missverstanden.
Der Titel des Albums ist vom gleichnamigen Kafka-Roman entlehnt; es ist bekannt, dass der Bandleader gerne Haruki Murakami liest.
Den treffendsten Ausdruck nehmen die literarischen Bezüge im Schlußstück „Guru/Night Gleam“, wo Köster einen Text von Allen Ginsberg vertont und - nebenbei bemerkt - endlich den Sänger Tobias Christl angemessen aufgenommen hat.
Als musikalische Referenz für dieses Projekt nennt der Bandleader das aktuelle Wayne Shorter Quartet. Da ist was dran, obwohl konkrete Bezüge schwer nachzuweisen sind; immerhin entfällt hier die Möglichkeit für den Zuhörer, das Jonglieren mit den Bestandteilen ihm bekannter Stücke nachzuverfolgen.
Aber sozusagen von der generellen Haltung her ist der Bezug nachvollziehbar. Noch mehr aber bieten sich Analogien zur Spätphase des zweiten Miles Davis Quintetts (kurz vor „Bitches Brew“) an.
Am meisten schimmern noch Herbie Hancock und Danilo Perez durch, aber keineswegs im Sinne von kopierten Mustern, sondern als strukturelle Referenzen.
Die vier schaffen graduell Neues, im Referenzsystem des Vertrauten. Und ganz neu ist ein klanglicher gimmick, den Frederik Köster des öfteren - klug - verwendet: den freeze-Effekt, das „Einfrieren“ eines oder mehrerer Trompetentöne, meist ohne tiefe Frequenzen, die einfach so wie ein Teppich, wie ein Orgelpunkt, da liegen.

erstellt: 27.04.13
©Michael Rüsenberg, 2013. Alle Rechte vorbehalten