BENOIT DELBECQ TRIO The Sixth Jump *********

01. Ando (Delbecq), 02. Poursuite/Drum Page (Delbecq/Biayenda, Argüelles), 03. Letter to György L. (Delbecq), 04. Barragán, 05. Piano Page (Delbecq, Argüelles), 06. Aka (Delbecq), 07. Le Méme Jour, 08. Yompa, 09. Le Sixième Saut, 10. Pointe de la Courte Dune/Bass Page (Delbecq/Avenel, Argüelles)

Benoit Delbecq - p, Jean-Jacques Avenel - b, Emile Biayenda - dr, perc; Steve Argüelles - remix (2, 5, 10)

rec 12.+13.07.2008
SunnyMoon/Songlines SGL 1585-2
Video Making of The Sixth Jump


Die ersten Takte lassen aufhorchen: wann hat ma je Piano, Kontrabass und Schlagzeug so gut klingen gehört? So prägnant, so nuanciert, so gut verräumlicht? Zwar kann auch „The sixth Jump“ die Dynamik-Grenzen des CD-Formates (16bit/44.1khz) nicht überwinden; oft aber hört man, Aufnahmeverfahren mit höherer Auflösung liessen, heruntergerechnet auf CD, auch dort noch etwas von der höheren Qualität erahnen.
Das könnte auf „The sixth Jump“ zutreffen. Die Produktion ist mit 24 bit/48khz entstanden, immerhin also doppeltem Dynamik-Umfang, man kann sie auch in diesem Format kaufen. Ganz sicher aber nützten die höheren Werte nichts ohne die kluge Mikrofonierung von Etienne Bultingaire im Studio La Muse en Circuit in Alfortville/Frankreich.
Apropos „Takte“; es braucht seine Zeit um herauszufinden, was denn hier rhythmisch der Fall ist. Der Eindruck „Afro“ drängt sich im ersten Stück sogleich auf - aber einen Beat herauszudestilieren, dauert, weil mehrere Spuren sich überlagern. Die Faustregel, wonach Afro mit „Drei“ zu tun hat, hilft auch hier schließlich weiter: „Ando“ basiert auf einem 3/4-Takt.
Später fällt das Zählen weitaus schwerer, und nach track 6 („Aka“) steht zumindest rhythmisch das Thema dieser Produktion fest: Poly-Rhythmik bis zum Abwinken!
Einzig „Yompa“ mit einem wunderbaren 6/8 percussion-layer und „Pointe des la Courte...“ mit einem dunklen 4/4-Groove geben ihre Architektur schneller preis. Ansonsten herrscht hier ein rhythmischer Dschungel sondergleichen, es groovt ohne Ende - ohne tight zu sein, ohne also auf den Punkt gespielt zu sein.
Es klingt, als wäre hier die Quadratur des Kreises gelungen: ein „abstrakter Groove“. Wir wollen es vorsichtig formulieren, aber hier scheint eher eine euro-afrikanische denn eine afro-amerikanische Ästhetik Regie zu führen. Dem melodisch-harmonischen Überbau nämlich fehlen sämtliche Anzeichen einer dramatischen Expression oder gar einer hot intonation.
Im Gegenteil, Benoit Delbecq streut wie beiläufig seine Töne; es sind eher Kurzmotive, kaum je ausgearbeitete Themen, dynamische Kontraste fehlen fast völlig. Delbecq steht einem Monk oder Abdullah Ibrahim ebenso nahe wie andererseits Ligeti, Messiaen oder John Cage. Von letzterem hat er - wie früher schon - die Technik des präpapierten Klaviers übernommen, also die Saiten des hier 92 (!) Tasten-Flügels abzudämpfen, klanglich gewissermaßen „trocken“ zu legen.
Das Resultat ist umwerfend: das Piano mutiert zu einem weiteren Rhythmus-Instrument (Höhepunkt „Le Meme Jour“), zu einem zusätzlichen Verschleierer des Grundbeats. Und man fragt sich, warum die unzähligen anderen Bewohner des Planeten „Jazz Piano Trio“ nicht auch auf die Idee gekommen sind.
Sie ist Jahrzehnte alt, und auch für Benot Delbecq nicht neu: auf seinem Solo-Album „Nu-Turn“ (2001) und auf seinem Quintett-Album „Pursuit“ (1999) setzt er sie ein. Und von letzterem hat er hier den fabelhaften Bassisten Jean-Jacques Avenel übernommen.
Mit seinen 62 Jahren entstammt er einer anderen Generation als Delbecq (44). Avenel war 20 Jahre lang in der Band von Steve Lacy (1934-2004), er spielt auch - wenngleich nicht hier - die Kora und leitet in Paris eine eigene west-afrikanische Gruppe.
Die große Entdeckung dieser Produktion aber ist Emile Biayenda, geboren 1965 in Brazzaville/Kongo, Namensvetter des Erzbischofs von Brazzaville (1927-1977), ansonsten Leiter der Tambours de Brazza. Delbecq hat ihn 1994 in Afrika kennengelernt. Wann hat man einen Ethno-Musiker gehört, der seine Herkunft nicht leugnet, zugleich aber auf sämtliche Klischees verzichtet? Diese Art künstlerischer Integration ist beispielhaft - und das schiere Gegenteil zu Joachim Kühns Marokko-Projekt.
Wo Benoit Delbecq, da ist häufig - und dies seit 20 Jahren - auch Steve Argüelles. Wie schon bei „Pursuit“, insbesondere aber Delbecqs anderem Solo-Album „Piano Book“ (2001), hat der in Paris lebende britische Schlagzeuger auch hier einige Spuren & Stimmen verfremt, vulgo remixed. Das Resultat, abgesehen von „Piano Page“, das unmittelbar an die verzahnten Stimmen von „Piano Book“ anknüpft, ist - enttäuschend. In „Pointe...“ fällt die Bearbeitung des gestrichenen Kontrabasses kaum ins Gewicht, in „Poursuite/Drum Page“ leider umso mehr: die letzte Minute, da wo es so richtig „afrikanisch“ wird, ist von Argüelles´ Zugriff.
Darauf hätte man verzichten können in diesem ansonsten überragenden Projekt, einem der besten des (Veröffentlichungs-)Jahres 2010!

erstellt: 25.11.10
©Michael Rüsenberg, 2010. Alle Rechte vorbehalten