THE GOLDEN AGE OF STEAM Raspberry Tongue ******

01. Mr. Apricot/Imaginary Handbag (Allsopp), 02. Fox Fingers, 03. For no Raisin, 04. Raspberry Tongue, 05.Monocle, 06. 300 Golden Bees/Monkeyphonics, 07. Solomon Daisy, 08. Eyepatch, 09.Oboe or Glockenspiel (nach 10:09 Mystery Track)

James Allsopp - ts, bcl; Kit Downes - org, ep; Tim Giles - dr, perc

rec. 22.-24.06.2009
Babel BDV1086

Die Gentlemen lassen sich Zeit. Geschlagene 19 Minuten dümpeln sie einher, drei Stücke lang lassen sie uns im unklaren, wohin die Reise gehen könnte. Wir hören ein trockenes Tenor, eine trockene Baßklarinette, denen jede Geschmeidigkeit abgeht; ein Schlagzeug, das vor lauter Rhythmus-Brechungen keinen Grund findet, und dies trotz der mitunter drängend-düsteren Vorgaben der Orgel.
Ja, sogar ausgesprochene vamps, die hin und wieder wie Inseln aufragen, werden versemmelt - die drei wissen wenig damit anzufangen.
Die drei Gentlemen tun alles, um das „Goldene Zeitalter der Dampfkraft“ in ihr Gegenteil zu verkehren.
Mit track 4, dem Titelstück „Raspberry Tongues“, ändert sich schlagartig (fast) alles: Orgel-Baß und Schlagzeug bleiben auf einem Groove, das Tenor setzt sich endlich drauf, bleibt agil, nimmt Phrasen auf, und der Organist interveniert immer wieder mit seinen dunkel-aggressiven Tontropfen. Es ist Kit Downes, der angesagte Pianist/Keyboardspieler des jungen britischen Jazz. Seine Hammond-Orgel hat rein gar nichts von der Jazz-Tradition dieses Instrumentes a la Jimmy Smith, sie faucht geradezu elektrisch, er schlägt schrille, kurze Cluster a la Brian Auger, wahnsinnig gut placiert. Wie Florian Ross auch steht Downes auch technisch nicht in der Jazz-Tradition: er bedient kein Baß-Manual mit den Füßen, sondern spielt den Baß-Part mit der linken (das tut er so geschickt, dass Ross noch von ihm lernen kann.) Kit Downes macht Druck und Drive, ohne jemals durchgehende patterns zu spielen.
Das mehr gefühlte denn gespielte Metrum von „Raspberry Tongues“ zerbröselt in der Mitte - und fährt mit einem dieser vamps in doppeltem Tempo fort. Immer wieder unterbrochen, von kurzen Momenten, wo das Trio ohne Dröhnbaß segelt und die Orgel in eine andere typisch britische Klanggestalt flüchtet, nämlich den perlenden „Canterbury“-Sound a la Dave Stewart (was Kit Downes noch staunenswerter bei Troyka vorführt).
„Monocle“ ist nichts als ein kurzer Zwischenruf vom (Wurlitzer) Elektropiano, leicht verhallt mit Echo, und Cymbals; der Komponist James Allsopp gibt hier keinen einzigen Ton.
„300 Golden Bees/Monkeyphonics“ beginnt wieder mit diesen „Canterbury“-Minimal-Schlieren von der Orgel, der wie häufig etwas verloren wirkende Allsopp passt mit seiner Baßklarinette ganz gut dazu; das Stück schließt mit einem langen ostinato, das sich Orgel und nunmehr Tenorsaxophon teilen.
Mit „Solomon Daisy“ kommt erneut sozusagen ein Wurlitzer-Interplay, diesmal setzt der Schlagzeuger aus, Allsopp spielt Baßklarinette.
Es ist die Ruhe vor dem Sturm, denn nun folgt der Höhepunkt, die beiden Schlußtracks fließen ineinander. „Eyepath“ startet mit einem heavy rock riff, wie üblich in gebrochener Manier; Kit Downes zieht nun eine ganz andere Klangfarbe heran, nämlich die schillernden Orgelsounds a la Larry Young. (Wer je eine Hommage an Tony Williams Lifetime plant, kommt an diesem 24jährigen Briten nicht vorbei.)
In diesem ekstatischen Knäuel findet die Band zu sich selbst. „Eyepatch“ zerbröselt in frei-metrischem Gelände, ein typisch „britischer“ Orgelsound zieht es herüber in „Oboe or Glockenspiel“ - und wir sind in einer völlig anderen Welt.
Einer dieser wahnsinnigen vamps von James Allsopp, anmutig wie nichts zuvor, wird kontrapunktisch, wie in einem Kanon, von Baßklarinette, Tenorsaxophon, Orgel und Wurlitzer verwoben. Tim Giles (übrigens auch eines der nicht zu verachtenden neuen Talente in England) spielt frei auf den hohen Teilen des drumsets darüber - und peu á peu wird seine Spur mit Hall und Echo angereichert, ein wunderbarer Effekt, bis schließlich nichts weiter als kleine, rückwärtslaufende Spratzer übrigbleiben. (Wer vergißt, den CD-Player zu stoppen, für den beginnt ab 10:09 noch ein mystery track.)
Solche organisch sich entfaltenden Spielereien machen den Charme dieser Musik aus, die eben leider - siehe oben - auch das Gegenteil kennt, eine Zerfaserung, ein rhythmisches Niemandsland.
Wer „Raspberry Tongues“ hört, dem wird einiges zugemutet, der wird andererseits aber auch mit unkonventionellen Gedanken belohnt.
Eine kostenlose Hörprobe, „Goldfish“, die nicht auf diesem Album enthalten ist, findet sich hier.

erstellt: 12.10.10

©Michael Rüsenberg, 2010. Alle Rechte vorbehalten