PORTICO QUARTET Isla *******

01. Paper Scissors Stone (Portico Quartet), 02. The Visitor, 03.Dawn Patrol, 04. Line. 05. Life Mask Interlude, 06. Clipper, 07. Life Mask, 08. Isla, 09. Shed Song (Improv No 1)

Jack Wyllie - ss, ts, electronics; Milo Fitzpatrick - b, Duncan Bellamy - dr, p, mar; Nick Mulvey - hang, perc
Greg Duggan - vc, David Larkin, Mizuka Amamoto - v, Jose Candia - va

rec. 05/2009
Real World Records CDRW174/Indigo

Es herrscht eigentlich kein Mangel an Minimal Patterns im Jazz. Meist aber handelt es sich dabei um Accessoirs, um Klanggirlanden, denen kein tieferes Verständnis der Minimal Music oder Systems Music (wie die Minimalisten sie nennen) zu Grunde liegt.
Diese Briten hier wissen, was sie weben; sie kennen Steve Reich & Phillip Glass, ganz sicher auch ihre Landsleute aus derselben Fraktion, Michael Nyman & Andrew Poppy oder Lost Jockey...
Ach, was wäre das für ein origineller Anfang für diese Rezension gewesen! Ganz nach dem schönen, alten, aber häufig falschen Motto: woran ich beim Hören denke, das unterstelle ich dem Ausführenden als Absicht.

Ein Besuch der Webseite dieser Band, in der Folge das Herunterladen eines Bandporträts von John L. Walters und eine kurze Korrespondenz mit dem Autor (der für den Guardian schreibt und hauptberuflich die Redaktion des Eye Magazine leitet) bringen die schönen Vorstellungen ins Wanken: über Lost Jockey wissen diese Musiker („they´re really young“, John Walters) kaum etwas, Andrew Poppy kennen sie gar nicht, ebenso wenig das Stück von Eberhard Weber mit dem (oder der?) hang drum.
Dieses Instrument, 2000 erfunden in Bern von Felix Rohner und Sabina Schaerer, schaut aus wie zwei aneinandergeklebt Woks. Es ist also konvex (im Gegensatz zur steeldrum = konkav), teilt aber aber als „tuned metal percussion“ viele von dessen Klangeigenschaften.
Die Obertöne produzieren einen schwebenden Klang, „heiter und freundlich“, und man glaubt gerne, dass das Portico Quartet anfangs mit Straßenmusik an der Londoner Southbank querbeet Aufmerksamkeit erzielte. „Die Resonanzen der hang drum“, sagt Nick Mulvey zutreffend, „gehen einem jeden zu Herzen.“
Die hang drum (Mulvey bedient deren drei) dürfte auch mit diesem Album Ohren öffnen, die sich sonst vor Jazz verschließen. Und selbst wenn sie zugleich Saxophon, Kontrabaß und Schlagzeug vernehmen, werden sie nicht zuklappen, denn dies ist Jazz für Leute, die Jazz nicht mögen.
Portico ist auf seine Art so wenig Jazz, wie Rabi Abou Khalil oder Michael Riesler auf ihre Art auch (nicht) Jazz sind. Einzig, dass sie improvisieren, dass sie interagieren, daß sie Teile des üblichen Instrumentariums verwenden, rückt sie in die Nähe des Jazz. Es gibt Momente („Dawn Patrol“), da schraubt sich das Sopran von Jack Wyllie in eine Expressivität a la John Surman, aber meist intoniert und phrasiert er so un-jazzig wie einst John Harle. Thematik und Form der Kompositionen sind denkbar jazz-fern.
Nicht von ungefähr spricht der „Isla“-Produzent John Leckie (Radiohead) auf der Webseite der Band denn auch von „Songs“. Exakt das sind sie: instrumentale Songs, die aus dem Jazz, aus der Gamelan Musik, aus der Minimal Music (Mulvey bekam Steve Reichs „Music for 18 Musicians“ zum 15. Geburtstag), ja auch aus Pop zitieren - und ein ganz eigenes Gebilde daraus knüpfen. So entsteht ein Vokabular, von dem viele vieles verstehen.
Die Band agiert, wie John Walters in einer Konzertkritik hinzufügt, „mehr in der Art, wie afrikanische oder indische Ensembles eine Stimmung kreieren“; sie sei eher folkig als funky, mehr ländlich als urban - alles sehr treffende Charakterisierungen, um den Charme dieser Musik zu umschreiben.
Die Wiederholung, das ostinato, ist das bevorzugte Mittel von Portico, häufig in ihrer kleinteiligen Form, wo die einzenen Elemente einer Kette klanglich eher verschwimmen als bewußt wahrgenommen werden. Eng verwandt damit: der Orgelpunkt (englisch: pedal tones), der liegende Klang. „The Visitor“ wird so eröffnet von irrisierend verflochtenen Sopransax und gestrichenem Kontrabaß; letzterer grundiert „Life Mask“ mit einem Pop-Ohrwurm obendrauf, und im Schlußstück verschwimmt geradezu die hang drum. So wie hier, in „Shed Song“, wo mit „Improv No 1“ die Methode verraten wird, würde kein Jazz-Ensemble improvisieren - dermaßen in Klanglichkeit aufzuleben, ist Alleinstellungsmerkmal des Portico Quartet.

erstellt: 12.02.10

©Michael Rüsenberg, 2010, Alle Rechte vorbehalten