ANDREAS SCHAERER & LUCAS NIGGLI Arcanum ********                                                    

01. Pipe Tomahawk (Schaerer, Niggli), 02. Ancient Glow, 03. How to shoot a medieval Longbow, 04. Arcanum, 05. Adansonia digitata, 06. Chasing the Frog, 07. Marblecore, 08. Hallucigenia

Andreas Schaerer - voc, electronics, Lucas Niggli - dr, perc

rec. 11. + 12.09.2013
Intakt CD 232, LC 11265

Hier kommt zusammen, was - jetzt - zusammengehört, zwei Schweizer Traditionen, die die Jazzszene des Landes - pardon für die Metapher - nicht nur derzeit als Hochgebirge erscheinen lassen: die neue Vokal-Tradition mit Bruno Amstad, Sarah Buechi und, topping them all, Andreas Schaerer.
Lucas Niggli steht für eine wesentlich ältere, die Schlagzeuger-Tradition (die der ebenso guten CH/Funk-Drummer bewusst ausgeklammert), die Nicht-Schweizer viel kohärenter hören als die Eidgenossen selbst; es ist die Tradition des klangmalerischen Drummers, die über Fredy Studer und Peter Giger zurückführt bis zu Pierre Favre.
Lucas Niggli, 46, repräsentiert diesen Strang seit Jahren in einer großen Vielfalt; inwieweit Samuel Rohrer und Joachim Sartorius unter dieses Dach gehören, bleibt abzuwarten.
Schaerer & Niggli haben bereits ein Duo-Album veröffentlicht, aber dieses hier stellt dasjenige in den Schatten. Dass es so gut werden würde, das konnten die Zuhörer an zwei September-Abenden 2013 im Kölner „Loft“ mit Gewissheit antizipieren; die beiden haben tagsüber improvisiert und abends noch einmal, vor Publikum. Entschieden haben sie sich dann aber doch für die „Studio“-Teile.
Sie dürften sich in vielen Details, aber nicht prinzipiell voneinander unterscheiden, beide beruhen auf „freiem“ Improvisieren.
Das ist nicht voraussetzungslos, denn Schaerer kennt Niggli und vice versa, sie wissen was sie einander haben - und eben deshalb können sie sich auf ein so prozesshaftes Musizieren einlassen.
Die Schallwellen, die sich dabei in den Hirnen der Zuhörer zu Klängen formen, evozieren eine starke Bildhaftigkeit, schon weil sie nur selten in die Nähe vertrauter Muster/Stile geraten und ein Fabulieren geradezu erzwingen.
Man könnte also geneigt sein, wie Katie Bull in den liner notes, sich in die Bildhaftigkeit der Höreindrücke fallen lassen und sie sprachlich zum Ausdruck bringen, zumal die Benennung der Stücke dies nahelegt („how to shoot a medieval Longbow“)
cover-schaerer-niggliDa wimmelt es dann nur so von Fabelwesen und Märchentopoi:
„Eine riesige ausgestorbene Kreatur von unvorstellbarer Größe ist gerade in unser Ohr eingedrungen.“ Oder: „ein Zusammenziehen von Energie und Konzentration, wie der magnetische Prozess von sich gegenseitig anziehen Positiven und Negativen“, ganz zu schweigen von „mittelalterlichen Chören von vorbeiziehenden Mönchen in Kutten“, selbstverständlich „die Köpfe verhüllt“.
Nebbich.
Wer das Pferd dermaßen von hinten aufzäumt, sollte es gleich bleiben lassen. Der vernebelt sich, das große Geschick dieser beiden Musiker für spontane Klang-Architekturen zu erkennen, für die verwendeten Techniken sowieso.
Denn Andreas Schaerer, 37, ist ja kein Märchenerzähler, sondern ein Vokalist der Extraklasse.
Die Schnurren der Avantgarde, von Phil Minton bis David Moss, hat er alle drauf, zusätzlich das perkussive Human Beat Boxing, Schnalzlaute, Falsett, semi-Ethno a la Bobby McFerrin und jüngst sogar Zwei-Stimmigkeit (!).
Er macht Klicklaute mit dem Mund und singt eine Melodie durch die Nase, das macht er live mit dem ARTE Quartett (z.B. in Schaffhausen, 2014), und hier ist er an einer Stelle auch ganz nah dran. Aber man kann´s so recht nicht entscheiden, weil man nicht weiß, wieviel Nachbearbeitung noch stattgefunden hat.
Nicht zuletzt aber hat Schaerer noch kleine digitale Helfer, mit denen er wahnsinnig Dampf macht: einen Live-Sampler und ein Whammy, mit dem er seine Stimme um beliebige Intervalle erhöhen oder absenken oder auch multiplizieren kann.
Damit gelingen ihm wunderbare Schichtungen, wie z.B. im Titelstück, wo er aus hohen, mittleren und tiefen Lagen einen dichten drone produuziert, umrahmt von Niggli´s Cymbals.
Den dynamischen Gegenpol bildet „Marblecore“, wo Schaerer im Falsett über eine Schicht aus Pygmäen-Gesang singt und Niggli ihn mit einer Art drum´n´bass-Nervosität antreibt. Und ganz unten grummelt auch noch was, nämlich ein Vokal-Bass.
Das Maximum der Attacke aber ist das noch lange nicht. Wer die alarmierenden Gurgeltechniken des ersten tracks überstanden hat, der kann sich dann in „Ancient Glow“ erstmals seinen Sci-Fi-Assoziationen überlassen...

erstellt: 30.09.14
©Michael Rüsenberg, 2014. Alle Rechte vorbehalten