MARIUS NESET Birds *********

01. Birds (Neset), 02. Reprise, 03. Boxing, 04. Portugese Windmill, 05. Spring Dance, 06. Fields of  Clubs (Neset, Eger), 07. The Place of Welcome, 08. Introduction to Sacred Universe (Neset), 09. Sacred Universe, 10. Math of Mars, 11. Fanfare

Marius Neset - ss, ts, Ivo Neame - p, Jasper Høiby - b, Anton Eger - dr
Jim Hart - vib, Ingrid Neset - fl, Daniel Herskedal - tuba, Bjarke Mogensen - acc (1,11), Tobias Wiklund, Ronny Farsund - tp, Peter Jensen - tb, Lasse Mauritzen - frh

rec. 04/2012
Soulfood/Edition Records EDN 1040

Wer im vergangenen Jahr die Konzerte des 28jährigen Norwegers erlebt hat (etwa das furiose im Jazzkeller beim Festival Burghausen oder, ein halbes Jahr später, das geradezu explosive im Quasimodo beim Jazzfest Berlin), der wird es zunächst nicht für eine gute Idee halten, diesen Triumphen eine Studio-CD hinterher zu schicken.
Dass Marius Neset seinen Konzerten ein anderes Gesicht gibt als seinen Tonträgern, verbindet ihn auch formal mit seinem saxophon-technischen Nordpol, Michael Brecker (1949-2007). Der war zeitlebens in den Regalen eher mit dem kühlen Konstruktivismus seiner Studioaufnahmen vertreten als mit den rauschhaften Momenten seiner Konzertmitschnitte (die liegen in den Radio-Archiven).
Ok, Neset ist viel zu jung, um hier schon eine Analogie aufscheinen zu lassen. Aber, die kleine Gedanken-Arabeske steht hier nur, um den Weg zu der wesentlichen substantielleren Verwandtschaft zu ebnen, die hier zum Ausdruck kommt: deutlicher als auf dem Vorgängeralbum „Golden Xplosion“  tritt hier der Brecker-Einfluss zu Tage - aber immer noch nicht so penetrant, dass es erlaubt zu sagen, der junge Norweger breckert. (Ausnahme: das exzellente swingende „Sacred Universe“, wo er sich in seinem Tenorsolo von einem Brecker-Klischee zum nächsten hangelt.)
Wie gesagt, dass Neset die Live-Eindrücke nicht mit einem Live-Album verfestigt, mag man bedauern; zumal ein Studio-Album für gewöhnlich den sidemen nicht den gleichen Raum gewährt. Davon hätte Ivo Neame profitiert, dessen Entwicklung im Rahmen dieser Band binnen kurzem wirklich spektakulär zu nennen ist. Neame ist noch jung, hat noch viel vor sich, aber er dürfte in der Jazzgeschichte schon jetzt zu den erfolgreichsten Umsteigern gehören: der beste Pianist, der vom Altsaxophon kam, ist er allemal!
Ein Blick schon auf die Besetzung, die weit über das tolle Begleittrio Phronesis hinausgewachsen ist, zeigt, dass Marius Neset hier ein anderes Konzept verfolgt als in seinen Konzerten (obgleich es mit „Boxing“ und „Portuguese Windmill“ Überschneidungen gibt.) Er strebt einen orchestralen Klang an, elektronische Klangfarben kommen (fast) gar nicht zum Einsatz, der Folk-Faktor wird wesentlich deutlicher entfaltet.
cover-neset-birdsAuftakt und Finale des Albums sind schlichtweg atemberaubend und noch dazu thematisch miteinander verwoben. Wobei das Titelstück „Birds“ als Verwandter von Albert Mangelsdorff´s „Meise vorm Fenster“ gelten kann: hier wie dort nicht eine allgemeine Inspiration durch die Vogelwelt, sondern die prägnante Adaption von rhythmisch-melodischen Mustern.
Wie Neset das staccato-Thema mit einem Hang zu irischen Jigs auffächert und über die Instrumente wandern lässt, um es später in einer Stimmführung a la Brecker Brothers jazzmässig einzugrooven, das ist ein Kabinettstück sondergleichen.
Die Coda ist Schwester Ingrid (Neset) reserviert (kann man auf YouTube auch sehen), ebenso das virtuose Intermezzo „Spring Dance“ für Flöte, Tenorsaxophon und Schlagzeug.
Der Jazzrock von „Boxing“ beginnt mit Zitaten seines Vorgänger-Albums: eingestreute O-Töne sowie seine Saxophon-Zirkusnummer, allerdings diesmal in 7/4 und nur zweistimmig. Auf der Bühne ist dies eine einzige Eruption mit scharfen Segmenten, sie kommen hier viel weicher, das drum-solo-gegen-riff wird kurzgefasst.
„Fields of  Clubs“ sowie „ The Place of Welcome“ hat Neset zusammen mit seinem Kommilitionen aus gemeinsamen Tagen bei Django Bates am Rythmisk Musik Conservatorium in Kopenhagen geschrieben, dem exzellenten Schlagzeuger Anton Eger. Dem Tenorsaxophon wird Raum durch Hall und Echo gegeben, vor allem dank des britischen Vibraphonisten Jim Hart mag mag man hier eine Verwandtschaft zu Steps Ahead erkennen. „Fields of Clubs“ hingegen ist eine Folk-Jazz-Ballade, in der Neset zum Sopran-Saxophon greift (gegenüber früher wechselt er weitaus mehr zwischen beiden).
Z.B. in „Sacred Universe“, wo er nur den ersten Teil des Themas mit dem Sopran ausführt.
Erneut versagt sich Marius Neset der großen Elegie vieler seiner Landsleute, mit Ausnahme von „Math of Mars“, das mit den Blechbläsern räumlich aufgeblasen wird und sich schließlich zu einem großen Pathos aufschaukelt.
Gut, dass das nicht das letzte Wort dieser Produktion ist. Denn jetzt geht es - "Fanfare"! - noch mal richtig los, mit einem tänzelnden Drehwurm von snare drum, Flöte, Sopran-Saxophon und Tuba, zu denen sich - wie im ersten Stück - Akkordeon und die vier Blechbläser gesellen. Erneut meint man, auf einem irisch-schottischen Tanzboden sich zu befinden - bis das Thema von „Birds“ virtuose hineinmoduliert wird, in der bewährten Stimmführung a la Brecker Brothers. Ausklang in einem Schlussakkord von einer Minute und zehn Sekunden. Wahnsinn!

erstellt: 23.03.13
©Michael Rüsenberg, 2013. Alle Rechte vorbehalten