MILES DAVIS Live in Europe 1969/The Bootleg Series Vol. 2  *********

CD 1
01. Directions (Zawinul), 02. Miles runs the Voodoo down (Miles Davis), 03. Milestones, 04. Footprints (Wayne Shorter), 05. Round Midnight (Monk), 06. It´s about that Time (Davis), 07. Sanctuary (Shorter), 08. The Theme (Davis)
rec. 25.07.1969 Festival Mondial du Jazz d´Antibes

CD 2
01. Directions (Zawinul), 02. Spanish Key (Miles Davis), 03. I fall in Love too easily (Cahn, Styne), 03. Masqualero (Wayne Shorter), 04. Miles runs the Voodoo down (Davis), 05. No Blues, 06. Nefertiti (Shorter), 07. Sanctuary, 08. The Theme (Davis)
rec. 26.07.1969 Festival Mondial du Jazz d´Antibes

CD 3
01. Bitches Brew (Miles Davis), 02. Paraphernalia (Shorter), 03. Nefertiti (Shorter), 04. Masqualero, incomplete, 05. This (Chick Corea)
rec. 05.11.1969 Folkets Hus, Stockholm

DVD
01. Directions (Zawinul), 02. Bitches Brew (Miles Davis), 03. It´s about that Time, 04. I fall in Love too easily (Cahn, Styne), 05. Sanctuary (Shorter), 06. The Theme (Davis)
rec. 07.11.1969 Berliner Jazztage, Philharmonie Berlin                                 

Miles Davis - tp, Wayne Shorter - ss, ts, Chick Corea - ep, p, Dave Holland - b, Jack DeJohnette - dr

Sony/Columbia Legacy 88725418532, LC 00162

Columbia senkt das Niveau - und die Preise. Eine Box mit 3 CDs und 1 DVD für 20.99 Euro; dafür kann man es nicht selbst machen, pardon lohnt die Mühe des Kopierens nicht.
Man hält aber auch weniger in Händen: kein aufwendiges booklet mehr, keinen Essay von Bob Belden, nur noch den Text eines down beat-Journalisten, die Rückseite der ausfaltbaren Beilage enthält ein Foto und ist auch als Miniposter verwendbar.
Was einem zu Ohren kommt, ist tontechnisch grenzwertig, um nicht zu sagen: lausig, auch im Hinblick auf die Mischung. Man habe alles getan, um der Übersteuerung der beiden Antibes-Mitschnitte zu begegnen, ohne der Musik zu schaden, vermelden die Produzenten dieser Edition. Viel kann das, der „Natur“ des Schadens wegen, nicht gewesen sein. Das klingende Resultat liegt knapp über Telefonqualität.
Der Stockholm-Mitschnitt, obwohl von Sveriges Radio organisiert, mutet kaum besser an. Obendrein fällt dort gleich zu Beginn das e-piano aus, Chick Corea wechselt zum Flügel und kehrt erst in „This“ aus dem zweiten set des Abends wieder ans Fender Rhodes zurück.
Immerhin ist der Ton beim „Jazztage“-Video deutlich besser, man sieht Dave Holland nicht nur Bass spielen, man hört ihn endlich auch. Es bleibt dennoch ein Rätsel, warum die Aufnahmetechnik des Jahres 1969 so weit unter Standard fährt, viel schlechter als in den Jahren zuvor (beispielsweise 1965 im „Plugged Nickel“).
Dafür halten uns die Produzenten diesmal nicht mit halb-garen tracks hin, wie sie zuvor auf den Studio-Archivaufnahmen zuhauf zu finden waren: fehlerhafte Einsätze, unvollständige Stücke, alternative takes - die Suggestion von „complete“ wurde oftmals mit Zumutungen erkauft. In keinem einzigen Falle erwiesen sich Alternativen den „Originalen“, also den Erstentscheidungen, überlegen.
Das ist hier völlig anders. Zwar hat man dieses dritte Quintett schon hier und da gehört, aber niemals in Studioaufnahmen, wie Miles Davis bedauerte. Ein Zitat im booklet lässt erahnen, dass ihm offenkundig auch diese Mitschnitte hier nicht so recht bewusst waren - ihr diskografischer Wert jedenfalls ist beträchtlich.
Sie bringen vollends die alte These ins Wackeln, Miles habe nie FreeJazz gespielt. Das mag für seinen eigenen Anteil Gültigkeit haben, für Wayne Shorter schon weniger, für Jack DeJohnette und Chick Corea aber gar nicht.
cover-md-1969Es ist verblüffend, wie wenig jazzrock-artig gerade die Rhythmusgruppe Stücke angeht, die kurz vor bzw. nach diesen Mitschnitten zu Hymnen des Jazzrock wurden, z.B. „Bitches Brew“ und „Spanish Knee“ oder auch „Miles runs the Voodoo down“, entstanden während der „Bitches Brew“-Sessions Mitte August 1969.
Das Live-Repertoire von Miles ist im Jahre der Produktion solcher Landmark-Alben wie „Bitches Brew“ und „In a silent Way“ weniger von deren Inhalten geprägt als vielmehr von der alten Praxis, hauptsächlich Standards und Vorlagen von Wayne Shorter auf die Bühne zu bringen.
Mit anderen Worten: die Heldentat von Teo Macero, aus den Schnipseln der beiden oben genannten Studio-Sessions 1969 jazz-historische Ereignisse zu kompilieren, rückt gerade im Lichte dieser „Bootleg 2“-Box noch ein Stückchen mehr nach oben.
Ohne jeden track nun im einzelnen würdigen zu wollen: als Motor hinter dem enormen Tempo, der enormen Dynamik aller Stücke kann man Chick Corea und Jack DeJohnette ausmachen. Corea steht mit rhythmisch prononcierten, aber gleichfalls „abstrakten“ Linien schon sehr in der Konzeption seines Circle-Quartetts wenige Monate später. DeJohnette gibt wenig auf binäre, also rockige Rhythmen, am deutlichsten noch in Berlin („It´s about that time“) und Antibes 2 („Miles runs the Voodoo down“); er vibriert geradezu in den für ihn typischen Mustern des broken swing, von dem man vielfach nicht exakt sagen: hat er die time schon aufgegeben, ist das schon frei-metrisch?
Die klangliche Kehrseite seiner Hyper-Aktivität, ist dass seine Cymbals viele andere Sounds überstrahlen, insbesondere Wayne Shorter klingt häufig gepresst: vermutlich hat er sich selbst auf diesen Bühnen nur schlecht gehört.
Themen sind für den Aktionsdrang dieses Quintetts meist nicht mehr als Tangas, sie definieren nicht den Charakter eines Stückes; nur kurz halten sie das Ensemble beisammen, bevor wieder einer solistisch davon eilt. Es herrscht ein permanentes Groove switching, eine Ballade wie „Round Midnight“ ruht nicht lange in einem verhaltenen Status, sie wird auf uptempo swing beschleunigt und später das Metrum gänzlich aufgerieben. Mit anderen Worten, die Stück nehmen je Abend einen anderen Verlauf.
„The Sixties never die“ singt Dave Stewart (aus einer ganz anderen Welt). Er hat recht, Aufnahmen wie diese unterfüttern seine Aussage.


erstellt: 09.02.13
©Michael Rüsenberg, 2013. Alle Rechte vorbehalten