HEINER GOEBBELS Stifters Dinge *********

01. The Fog (Goebbels), 02. The Salt, 03. The Water, 04. The Wind, 05. The Trees, 06. The Thing, 07. The Rain, 08. The Thunder, 09. El Sonido, 10. The Storm, 11. The Coast, 12. Exhibition of Objects

Heiner Goebbels - p, dir, Hubert Machnik - progr, Willi Bopp, Matthias Mohr - sounddesign

rec. 20. + 21.10.2007

ECM 2216 4764193, LC 02516


Gut möglich, dass derjenige, der die visuelle Komponente dieses Projektes nicht kennt (den Rezensenten eingeschlossen), nur die halbe Miete erhält. Aber auch der „Soundtrack“ allein ist von betörenden Reizen, ein akustischer Raum, wie man ihn selten betreten kann.
„Stifters Dinge“ ist ein Theaterstück - ein Stück, wie der Titel kaum verhüllt, ohne Schauspieler. Die Bühne wird bestimmt von drei Feldern, die gewässert werden, sowie einer auf Schienen beweglichen Flügelskulptur:
„Fünf Flügel, ineinander verschachtelt und hochkant gestellt, mit Apparaturen versehen, durch die Klänge aus dem Inneren und Äußeren der Instrumente“ mit diversen Techniken erzeugt werden. Es kann aber auch, wie in „The Rain“, wie bei einem player piano ein ganzes Stück abgespult werden, in diesem Falle der zweite Satz aus dem „Italienischen Konzert“ von J.S. Bach - nicht in der einzigen Fremdquelle in diesem Projekt.
Wie immer bindet Heiner Goebbels einen Kosmos aus Fremdem und Eigenen zusammen, der einen kaum an der Urheberschaft zweifeln lässt. So klingt´s - und wahrscheinlich - so schaut´s aus nur bei Heiner Goebbels. Dabei ist dem Autor der liner notes, Wolfgang Sandner, zuzustimmen, dass man nur mit „terminologischer Verlegenheit“ dieses Projekt als „Komposition, Werk, Environment oder Installation“ bezeichnen kann.
goebbels-stifter„Stifters Dinge“ ist akustisch in der Tat der Klangkunst so nahe wie dem Jazz fern. Und doch bietet es vor allem dem, der die Arbeiten von Heiner Goebbels über einen längeren Zeitraum verfolgt, die Chance, sozusagen zurückzuhören bis zu „Frankfurt-Peking“ (1984), neben dem Brecht-Projekt „Zeit wird knapp“ (1981), einer der Höhepunkte aus den Arbeiten mit Alfred Harth.
Wenig an den Orchesterwerken, den Theater- und Kammermusiken von Heiner Goebbels schließt daran an in den letzten zwei Jahrzehnten. Jetzt kann man überraschenderweise vieles auf „Frankfurt-Peking“ zurückführen, und zwar auf ein ganz bestimmtes Stück daraus: „Stell dir vor, du bist ein Delphin“.
Die verschrobenen Piano-Kürzel in tiefer Lage, die Klangflächen, die allerlei Klanggestalten transportieren, die verfremdete Zitat-Stimme, damals aus einem „Transatlantik“-Aufsatz“, hier das verwaschene Gebrabbel von William S. Burroughs  - der Schnittmengen sind etliche, vor allem in den tracks 1 und 11.
Wie immer sind Goebbels´ Klangfantasien gleichsam geerdet: durch Loops (aus feinen Geräuschen oder auch Pianofiguren), im Auftaktstück schimmert gar ein 4/4 Disco-Fuß durch, technoid tiefe Baß-Schläge („The Water“), und jüngst hat er auch die Schönheit der drones, der geräuschaften Liegeklänge, entdeckt. (Die Ausführung hat vermutlich den Herren Machnik, Bopp und Mohr überlassen, ausgesprochenen Könnern im übrigen.)
Wiewohl die Klangerzeugung ausschließlich in und an den fünf Flügeln entsteht, hat man sogleich den Eindruck, durch eine sorgfältig orchestrierte Industriehalle geführt zu werden. Die Klangdramaturgie ist einfach betörend. Insbesondere wenn Fremdaufnahmen auf das Dröhnen gesetzt werden: Gesänge von Fischern auf Papua-Neuguinea (aufgenommen 1905!), eine klar Referenz zu Goebbels´ „Cantor Loops“ von 1996, das rhythmische call & response kolumbianischer Indianer in „El Sonido“, erneut William S. Bourroughs und Macolm X in „The Thunder“.
Hier kommen avancierte Klaviertechniken zum Einsatz (eigentlich schon ab track 6): Burroughs murmelt über einem düsteren Loop im 3/4-Takt, nach gut 2 Minuten setzt sich wiederum im 3/4-Takt eine Piano-Figur darüber - und die Stimme von Malcolm X.
Er spricht - geradezu prophetisch - in den frühen 60er Jahren über den Verlust des Maßstabes der Europäer, der tonangebend in der Welt war. Ähnlich Martin Luther King swingt Malcolm X geradezu in seinem Vortrag, dessen Herkunft aus einem Interview eben deshalb verblüffen muss.
Dieser Track ist ein gestalterischer Höhepunkt des Albums, wobei man fragen muss, warum ein Interview mit dem französischen Ethnologen Claude Levi-Strauss über Bach erklingt.
Der Text des Titel gebenden deutschen Schriftsteller Adalbert Stifter (1805-1868) erklingt in „The Trees“ über einer Klangkunst-Strecke aus Klang-Flächen und -Punkten. Dass dessen Text (aus „Die Mappe meines Urgroßvaters“, 1864), mit seinem wunderbaren Vokabular an Lautbezeichnungen, auf Englisch vorgetragen wird, und der Internationalität des Projektes geopfert wird, ist geradezu ärgerlich; was hätte ein Ernst Stötzner daraus gemacht?
Wie immer bei Heiner Gobbels ist auch dieses Kunstwerk eine offene Baustelle, hat der Komponist keine dezidierte Botschaft. Man mag also, so man will, aus den disparaten Texten eine gemeinsamen Kern herausfiltern, oder auch nicht.
Man kann es auch ganz einfach genießen als ein großes Stück Klangkunst.

erstellt: 28.09.12
©Michael Rüsenberg, 2012. Alle Rechte vorbehalten