RAVI COLTRANE Spirit Fiction *********

01. Roads cross (Ravi Coltrane, Perdomo, Strickland, Gress), 02. Klepto (Alessi), 03. Spirit Fictrion (Ravi Coltrane, Perdomo, Strickland, Gress), 04. The Change, my Girl (Ravi Coltrane), 05. Who wants Ice Cream (Alessi), 06. Spring & Hudson (Ravi Coltrane), 07. Cross Roads (Ravi Coltrane, Perdomo, Strickland, Gress), 08. Yellow Cat (Alessi), 09. Check out Time (Ornette Coleman),  10. Fantasm (Paul Motian), 11. Marilyn & Tammy (Ravi Coltrane)

Ravi Coltrane - ss, ts, Joe Lovano - ts (9,10), Luis Perdomo - p (1,3,4,7,11), Drew Gress - b (1,3,4,7,11), EJ Strickland - dr (1,3,4,6,7,11), Ralph Alessi - tp (2,5,8,9), Geri Allen - p (2,5,8-10), James Genus - b (2,5,8,9), Eric Harland - dr (2,5,8,9)

rec 2012 (?)
EMI/Blue Note 509999 18937 2 7, LC 0133

Als im Januar 2012 Don Was, 59, die Leitung von Blue Note übernahm, wusste man kaum zu sagen, was das Wortgeklingel des einstigen Pop-Produzenten für den Bestand dieses Traditionslabels des Jazz bedeuten würde. Er lobte die Milchkuh des Labels, Norah Jones, ebenso Robert Glasper („Sein neues Album hat alles, was ich bei Blue Note umsetzen will“), und schloss in seinen Überschwang auch „Spirit Fiction“ ein, das kommende sechste Album von Ravi Coltrane, seinen Einstand bei Blue Note.
Wenn´s so weiter geht (Was hat Wayne Shorter und Terence Blanchard heimgeholt), wollen wir den Blue Note-Boss loben: „Spirit Fiction“ ist ein Vergnügen ohne Ende.
Es operiert passgenau zu der (Fast)Binsenweisheit, die Reiner Michalke vor dem Moers Festivals 2012 ausgegeben hat. Demnach sei die Zeit der Experimente vorbei (was wir bezweifeln), es gehe nun vielmehr um „die Erforschung der konventionellen Musik“ (was wir lauthals bejahen).
In der Tat wird man nichts auf „Spirit Fiction“ finden, was irjenswie neu oder unerprobt wäre - und doch, siehe oben, es bietet eine knappe Stunde voller Entdeckungen & Vergnügen über dieselben.
cover-coltrane-spiritDer Coltrane-Sohn arbeitet mit seinem langjährigen Quartett (Perdomo, Gress, Strickland) sowie einem Quintett, das er vor einem Dutzend Jahren auf „From the Round Box“ schon eingesetzt hat (Alessi, Allen, Genus, Harland). Schließlich setzt er bei den beiden Standards dieses Albums, es sind Widmungen an Dewey Redman und Paul Motian, seinen Tenor-Kollegen und Co-Produzenten Joe Lovano ein.
Die Stücke mit den beiden Tenören fallen thematisch, aber nicht rhythmisch aus dem Rahmen - rhythmische Varianz und Eleganz sind das Riesen-Motto dieser Produktion!
„Check out Time“, die Widmung an Ornette Coleman und Dewey Redman swingt wie jeck, aber belässt es nicht dabei, die Zeit biegt sich in Beschleunigungen (accelerando) und Verlangsamungen (ritardando). Diese Rhthmusgruppe (James Genus, Eric Harland) ist eine Delikatesse!
Und Geri Allen! Coltrane animiert sie zu einer Ausdrucksqualität, wie man sie auf ihren eigen Alben lange nicht mehr gehört hat.
In „Fantasm“ von Paul Motian tupfen die beiden Tenöre allein mit der Pianistin, eine kongeniale Übersetzung der brüchigen Motian-Ästhetik in ein völlig anderes Format.
Apropos brüchig, das ganze Projekt schwelgt geradezu in rhythmischen Vieldeutigkeiten; oft weiß man nicht: ist das noch broken swing oder schon frei-metrisch?
Genau zu diesem Zweck wird das Quartett im Eröffnungsstück in zwei Duos gesplittet: „jedes hat seine eigene, wechselwirksame Agenda, was Puls und Tempo betrifft. Die Richtungen überlappen und überschneiden sich auch mal, alles ist in konstanter Bewegung“, wie Ravi Coltrane das Konzept erläutert.
„Cross Roads“, wo er gleichfalls Sopran spielt (klar, kraftvoll & elegant), gehorcht einem ähnlichen Konzept: die ryhtmische Spannung ist kaum auszuhalten. Das ist eine Art FreeJazz, gegen den viele, viele europäischen Rasereien hausbacken, ja arm wirken.
Ravi Coltrane hat immer auch seine sidemen kompositorisch zum Zug kommen lassen. „Klepto“ ist der Einstand des großartigen Ralph Alessi; hier, wie auch in „Who wants Ice Cream“, kommt man angesichts der rhythmischen Rafinessen kaum zum Luftholen.
Herrschaften, wie diese Musiker die time kneten, strecken, drehen! Wer dabei in der Person von Eric Harland den Teufel im Nacken hat, der muss raus; wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt darin um.
Okay, Pat Metheny hat melodisch & konzeptionell völlig anderes im Sinn, aber seine aktuelle Rhythmusgruppe (Ben Williams, Antonio Sanchez) könnte sich hier schlau hören.
Eines der besten Jazzalben 2012; diese Wertung wird in den kommenden Monaten schwerlich außer Kraft gesetzt werden.

erstellt: 11.06.12
©Michael Rüsenberg, 2012. Alle Rechte vorbehalten