MICHAEL BRECKER Pilgrimage *******

01. The Mean Time (Michael Brecker), 02. Five Months from Midnight, 03. Anagram, 04. Tumbleweed, 05. When can I kiss you again?, 06. Cardinal Rule, 07. Half Moon Lane, 08. Loose Threads, 09. Pilgrimage

Michael Brecker - ts, EWI, Herbie Hancock - p, ep (01, 05, 08 + 09), Brad Mehldau - p (02, 03, 04, 06 + 07), Pat Metheny - g, John Patitucci - b, Jack DeJohnette- dr

rec 08/2006 + 01/2007
Verve/WA Records 0602517263512; LC-Nr 00699

"Pilgrimage", die Pilgerreise, ist das letzte Album von Michael Brecker; produziert im August 2006, gemischt im Januar 2007, wenige Tage vor seinem Ableben am 13.01.2007.
Verständlich, daß die, die dabei waren, dabei sein durften, von einem besonderen Erlebnis sprechen. Zumal die Aufnahmen nicht en suite stattfinden konnten, sondern immer von der gesundheitlichen Tagesform Breckers abhängig waren. Man ging jeweils nach einer Sitzung auseinander, ohne die Gewissheit einer Fortsetzung am folgenden Tag.
In diesem Klima gedeihen Superlative wie der von
Pat Metheny: "Mike´s Bemühung, uns allen eine letzte Botschaft zu übermitteln - und um genau dies, eine Botschaft, handelt es sich -, wird als einer der großen Schlußakkorde in die moderne Musikgeschichte eingehen. Was während dieser wenigen Tage im August im Studio passiert isst, kann man unmöglich beschreiben. Es war eines der erstaunlichsten, überwältigendsten, unglaublichsten Dinge, die ich - und alle andere, die dabei waren - je erlebt haben."
Ob das Album ihn "auf dem Zenit" seines Könnens zeigt, "geradezu transzendentale Qualitäten" besitzt, wie seine Plattenfirma behauptet, mag zunächst dahingestellt bleiben (und sicher von der einen oder anderen Doktorarbeit beantwortet werden, die jetzt, da der Bogen einer Karriere Anfang und Ende hat, in Angriff genommen werden könnte).
Zuguterletzt war Brecker denn doch das Glück beschieden, ein Album gewissermaßen letzter Hand herausgeben zu können. Kein Zufallsprodukt, sondern eine Abschiedsvorstellung mit besonders eng verbundenen Kollegen, einer All Star Crew, in der lediglich
Brad Mehldau einen Neuzugang darstellt (Und der sich, um das vorwegzunehmen, nahtlos einfügt in diese Manschaft derer, die in der Jazzhistorie lange vor ihm Meriten sich erworben haben.)
"Pilgrimage" präsentiert einen erstaunlich vital wirkenden Michael Brecker; die letzte Kräfte, die er hier hat mobilisieren können, sind enorm. Die Kompositionen sind alle neu; es trifft nicht zu, daß "Loose Threads", wie die Plattenfirma behauptet, schon auf "Directions in Music" veröffentlicht worden sei. Es sind Spielvorlagen für große Instrumentalisten, nicht leicht zu spielen, aber konzeptionell nicht Indikatoren für eine besondere Ausrichtung geschweige Neu-Orientierung.
"Tumbleweed", eine Jazzrock-Nummer mit Blues-naher Form, schließt am meisten an die Stücke Breckers an, wie wir sie kennen. Im Thema setzt Brecker kurz auch das EWI ein, sein elektronisches Blasinstrument. Der Höhepunkt instrumentaler Potenz aber ereignet sich ein Stück früher, in "Anagram". Das vertrackte Thema steht im
7/4-Takt mit einem betörenden riff, gegen welches Jack DeJohnette später antrommelt. Breckers Solo (wie auch die übrigen) läuft zunächst über das hüpfende Bass-Ostinato in 7/4, wechselt dann in einen 4/4-swing und pendelt mehrfach hin und her. Für solche Formen ist das Team Patitucci/DeJohnette unschlagbar.
Der Titel der Ballade "When can I kiss you again?" geht auf eine Frage von Breckers Sohn
Sam zurück, als Familie und Freunden während des Krankenhausaufenthaltes jeglicher körperlicher Kontakt mit dem Schwerkranken untersagt war.
Die zweite Hälfte des Albums besteht hauptsächlich aus Stücken im
binären Modus, vulgo: jazzrock-nah, mit ãLoose Threads“ als ausgesprochenem Jazzrock-Stück, wie man es sich auch im Repertoire der Brecker Brothers hätte vorstellen können.
Das zehnminütige Titelstück schließlich schält sich nach einer ausschweifenden
rubato Einleitung als komplexer Midtempo Rocker heraus, in welchem Herbie Hancock ein Solo am Elektro-Piano spielt.
Dieses wie die anderen Stücke hätte man normalerweise erst einer Bühnenpraxis ausgesetzt und dann im Studio reproduziert - ein Verfahren, das hier nicht mehr möglich war.

erstellt: 30.05.07

©Michael Rüsenberg, 2007, alle Rechte vorbehalten