NILS WOGRAM & ROOT 70 Fahrvergnügen ********

01. Breathing (Wogram), 02. The Myth, 03. Bird´s Trip, 04. Desert, 05. Lost Keys, 06. Lunch Break, 07. The Lake, 08. Time flies, 09. Slow Mill

Nils Wogram - tb, Hayden Chisholm - as, bcl; Matt Penman - b, Jochen Rückert - dr

rec 01.2006
Intuition INT 3397 2; LC-Nr 08399

Es war nur nicht nur eine Frage der Zeit, dass Root 70 den vorübergehenden Einbruch im Frühsommer 2006 ("Heaps Dub" mit Burnt Friedman) würde korrigieren können: es war zu jenem Zeitpunkt bekannt, dass die Combo ihr drittes Album ein paar Monate zuvor aufgenommen hatte, ihre erste Produktion in NYC, in den Avatar Studios.
Man konnte sich, auf einer prinzipiellen Ebene, schlechterdings auch nicht vorstellen, dass dieses deutsche Jazz-
Exzellenz-Cluster in eigener Sache mit einer solchen Kreativitäts-Verweigerung an die Öffentlichkeit würde treten wollen.
Apropos deutsch: hierzulande lebt nur noch eines der beiden neuseeländischen Mitglieder (
Hayden Chisholm in Berlin und Köln), die beiden deutschen sind lange schon fortgezogen (Nils Wogram nach Zürich, Jochen Rückert nach Brooklyn/NYC). Vom Alter her (Root 70 = in den 1970er Jahren geboren) passen sie so recht nicht mehr dazu, auch konzeptionell sollten sie nicht zu den durchaus schönen Leistungen des "Young German Jazz" gerechnet werden - sie spielen in einer anderen Liga. Ob es die neuerdings vielbeschworene "europäische" ist, ist noch sehr die Frage; erkennbar jedenfalls schwingt Europäisches bei ihnen nicht mit. Es gibt auch keinen Grund, ihnen den Zutritt zu jener Lounge zu verwehren, in der sich beispielsweise ein Branford Marsalis Quartett aufhält.
An Komplexität des Materials kann Root 70 es damit aufnehmen. Ohnehin ist "Fahrvergnügen" weniger von Sturm & Drang als vielmehr von einer fast altersweisen "amerikanischen" Anmutung geprägt. Gelegentlich meint man
Ellingtoneskes zu hören: die Ballade "Desert" und das Thema von "The Lake", wobei vierteltönige Verzierungen dem Herrn damals wohl nicht eingefallen wären. Ohnehin färbt sich das Wasser von "The Lake" zwischen 7:19 und 10:13 in klassische Blues-Tönung. "Bird´s Trip" dann ist ein schneller swing mit Charlie Parker-Assoziationen (inklusive tradin´ fours). Und "Time flies" schliesslich tut nichts anderes, als die Technik der rhythm changes auf "Cherokee“ von Ray Noble zu übertragen: das Thema ist ein anderes, aber die Harmonien die gleichen.
In zwei Stücken ("The Myth" und insbesondere "Lunch Break") lässt die Combo rhythmisch eine Komplexität heraus, dass man vergisst, ob man Männchen oder Weibchen ist.
"Fahrvergnügen" ist das erste Album von Root 70, das ohne eine kompositorische Dreingabe von Hayden Chisholm auskommt. Das fällt auf, es zu "bedauern", wäre ein zu schweres Wort; und ob der insgesamt sehr "gediegene" Charakter dann ein anderer gewesen wäre, ist auch noch sehr die Frage. Denn als Autoren - für dieses Ensemble - waren
Nils Wogram und Chisholm immer sehr verwandt.
PS: Es gibt sogar eine Brücke zu "Heaps Dub": in "Slow Mill" erklingen die typischen
Dub-Echos - aber mit dem Munde geblasen.

erstellt 20.10.06

©Michael Rüsenberg, 2006, Alle Rechte vorbehalten