TOMMY SMITH SEXTET Evolution ********

1. Woodstock (Tommy Smith), 2. Easter Island, 3. Lisbon Earthquake, 4. Siege of Leningrad, 5. Sputnik´s Tale, 6. On the Way to Barnard´s Star

Tommy Smith
- ts, Joe Lovano - ts, John Scofield - g, John Taylor - p, John Patitucci - b, Bill Stewart - dr

rec 04/2003
Alive/ESC Records 3693-2; LC-Nr 02516

Jemanden, der mit
16 sein erstes eigenes Album veröffentlicht hat, auch 22 Jahre später noch als "one of the important voices in the young tenor players of today" zu bezeichnen, wie dies Jack DeJohnette tut, hat etwas Verschrobenes.
Denn dieser jemand war seitdem nicht untätig und hat - "Evolution" nicht eingerechnet -
19 weitere Alben veröffentlicht, darunter vor etlichen Jahren schon mit eben jenem Jack DeJohnette. Insofern mag das Zitat alt sein und lediglich aufgewärmt werden mit anderen Zitaten von Grössen (Chick Corea, Gary Burton, John Scofield), um diesem vielbeschäftigten, gleichwohl weitgehend unbekannten Tenoristen aus Edinburgh was Gutes zu tun.
Das geht voll in Ordnung, denn
Smith braucht sich nicht mit seiner anglo-amerikanischen Besetzung und schon gar nicht mit seinem Repertoire zu verstecken.
Die einzige Merkwürdigkeit sind die Titel, von denen es heisst, sie bezögen sich alle auf Gedichte des schottischen Dichters Edwin Morgan. Den Herrn scheint die jüngere und ältere Zeitgeschichte umzutreiben, und normalerweise sind Kompositionstitel im Jazz nicht der Rede wert - begönne das Stück mit dem eindeutigen Titel "Woodstock" nicht mit Südstaaten-Insignien:
Scofield gibt ein pattern vor, das sich wenig später als New Orleans back beat herausstellt. Was die Komposition "Lisbon Earthquake" mit dem Grossen Beben von 1750 in Verbindung bringt, bleibt ebenso offen; ist vielleicht auch wurscht, von viel Reizvollerem berichtet die Beschreibung, dass hier sowohl Thema als auch Improvisation abwechselnd über ein binäres als auch swingendes Muster laufen.
Die "Belagerung Leningrads" ("Siege of Leningrad") hat selbstverständlich ihre düsteren
Saiten im tiefen Piano-Register und allerlei rhythmische Formen bis zur Auflösung des Metrums.
Jawohl, der nicht mehr ganz junge Mann verwendet seine all star Mannschaft nicht nur zur Staffage, sondern hat ihr Edles und Komplexes auf die Pulte gelegt.Wer sich den Eindruck davon vermitteln will, zäumt das Pferd am Besten von hinten auf, vulgo: fängt mit dem letzten Stück an, das an Komplexität in allerbester Ausführung kaum noch zu überbieten ist.
Ja, wofür hat er denn einen Taylor, einen Patitucci, einen Stewart?
Das Stück entwickelt eingangs ein 9/4-ostinato im Piano, was sich später, als dezidiert 3/4-Takte auftauchen, als eine verlängerte Vorwegnahme dieser herausstellt (wird aber trotzdem 4 + 5 gespielt). Die beiden Tenöre spielen kontrapunktisch darüber, sodass man Taylor kaum noch folgen kann. Später eine kurze Aufwallung in
7/4 a la King Crimson, die keinen anderen Zweck hat, als Aufmerksamkeit für ein Blues-Bett für Scofield zu bereiten. Und wieder zurück auf Anfang!
Das
liest sich ober-kompliziert, klingt aber toll, weil es mit Eleganz & Akkuratesse sondergleichen gespielt wird.
Es ist vollkommen wurscht, ob dieser Post-Bop nun von diesem
Tommy oder von irgendjemand sonst stammt, der Titel "Evolution" ist sicher auch eine Übertreibung, aber wer richtig ausgefuchsten Jazzmusikern bei der Arbeit folgen will, der ist hier bestens aufgehoben.

erstellt: 05.04.05

©Michael Rüsenberg, 2005, Nachdruck verboten