Wayne Shorter, 1933 - 2023

Wayne Shorter ist verstorben.
Die Jazzpolizei empfiehlt nicht eine, sondern acht Schweigeminuten.
Sie sind hörend zu verbringen.
Zum Beispiel mit dem Auftritt des Wayne Shorter Quintetts 1996 beim Montreux Festival, in der uptempo funk Version von „Over Shadow Hill Way“
(mit David Gilmore, g, Jim Beard, keyb, Alphonso Johnson, bg, Rodney Holmes, dr).
Man könnte anschließend das Album „High Life“ (1995) auflegen, zum Beispiel „On the Milky Way Express“ und „Midnight in Carlotta´s Hair“, um Kraft & Anmut ähnlich „Over Shadow Hill Way“ zu erfahren - die Vorder- und Rückseiten in den Werken eines großen Jazzkomponisten.
Und damit hätten wir noch gar nicht die ganz große Retrospektive begonnen, wären noch gar nicht bei „Footprints“, „Nefertiti“, „Infant Eyes“, „Paraphernalia“ und vielen anderen gelandet. Und die avancierten Kader bei "Live at The Plugged Nickel" (1965).
Es würden, mit anderen Worten, Schweigestunden, ja Schweigetage.
 Das Werk ist immens, es gehört zu den fruchtbarsten der Jazzgeschichte.
Der Pianist und Essayist Ben Sidran wählte einst dieses Bild: wenn Miles Davis einen Cheeseburger bestellt, dann verwandele sich dieser in einen Jazzburger: „This Man defines“.
Nicht weil er fünf Jahre bei Miles verbracht hat (1964-69), so wie vorher fünf Jahre bei Art Blakey (1959-64), träfe eine modulierte Metapher auf ihn zu.
Sondern weil Wayne Shorter über sechs Jahrzehnte geradezu idealtypisch zentrale Werte dieser Gattung verkörpert hat: finding one´s own voice, als Saxophonist, als Bandleader/Co-Bandleader (Weather Report), noch mehr als Komponist, last not least: mit einer ungeheueren Anschlußfähigkeit.
Dazu gehört, very last not least, ein modellhaftes Spätwerk: wie kaum ein anderer hat er seine Kompositionen, in Begleitung von Vertretern der nachfolgenden Generation (vulgo: John Patitucci, Danilo Perez, Brian Blade) einer fruchtbaren Revision unterzogen. 
Tonnen von YouTube-Videos (z.B. 2014 beim Jazzfest Bonn) zeugen von Entzücken & Überraschung eines älteren Herrn im Garten seiner eigenen Saaten.
Wie "ein Mönch kommender Heiterkeiten" sitzt er da und ergötzt sich gar nicht so klammheimlich daran, wie die jüngeren Kerle seine Pflanzen umtopfen (man möchte sich hier mit fiebriger Erregung die schöne Metapher borgen von Rainald Goetz (die ihm jüngst mit Blick auf ein Foto des jungen Hans Magnus Enzensberger zugeflogen ist.)
Wayne Shorter, geboren am 25. August 1933 in Newark/NJ, ist am 2. März 2023 in Los Angeles gestorben; wie aus Familienkreisen zu erfahren ist, eine „Erlösung“ für den Schwerkranken. Er wurde 89 Jahre alt.

erstellt: 02.03.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

So geht es Keith Jarrett

Ganz ehrlich, würde der Interviewer nicht umfänglich das Gespräch vorbereiten, indem er Fotos zeigt und Video-Auschnitte, schließlich neben ihm sitzt und ihn mit seinem Namen anspricht - man hätte Keith Jarrett nicht wiedererkannt.
Da ist schon physiognomisch nichts mehr von der dominanten Person, die über Jahrzehnte Konzertsäle wortwörtlich beherrschte. Auch der stimmliche Ausdruck ist deutlich beeinträchtigt.
Was er noch vermag, nach zwei Schlaganfällen 2018, das konnte man im August 2022 bei NPR erfahren (nur noch rudimentär mit der rechten Hand spielen).
Aber nachlesen und jetzt auch optisch erfahren, wie die linke Spielhand schlaff in einer Schlaufe hängt und die rechte erkennbar doch noch einiges weiß (zum Beispiel das Thema von „Desafinado“), das ist eine ganz andere Erfahrung. 
Man wird Zeuge von Restbeständen einer einst als genial gefeierten, individuellen Sensomotorik.
Und doch, Ethan Iverson, Pianist und neuer Volkspädagoge des Jazz, erkennt Mängel darin auch in Hochzeiten.
Er verlinkt zwar zum neuen Video von Rick Beato, aber zum Stichwort von Jarrett, er habe statt Quarten a la McCoy Tyner lieber „Bach-ian“, also kontrapunktisch im europäischen Sinne gespielt, kramt Iverson auf seinem Blog Transitional Technology seine alte Abrechnung wieder heraus, wonach Jarrett in puncto Bebop seine Hausaufgaben nicht gemacht habe (im Gegensatz zu Chick Corea):

„What ever it is, Bach doesn’t help. (Bud Powell would help.)“
Das klingt beckmesserisch, ist aber nicht so gemeint. Daraus kann man lernen.
Und er schließt mit einer tiefen Verbeugung: im Hinblick auf die „esoterische ´atonale und doch pulsierende´ Ästhetik - wie das erste Stück des Bordeaux-Albums - erweist sich Keith vielleicht als der Größte aller Zeiten.“

erstellt: 27.02.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Applaus in NRW

Das Füllhörnchen des Bundes - der Applaus-Preis - hat seit 2009 einen regionalen Vorläufer in NRW: die Spielstättenprogrammprämie.
Damit zeichnet das Ministerium für Kultur und Wissenschaft gemeinsam mit dem Landesmusikrat NRW „kleine und mittlere Foren für Jazz und Popmusik aus, die in Form ihrer Live-Programme Musikerinnen und Musikern regelmäßige Auftrittsmöglichkeiten bieten.“
Lokal gesehen geht der Löwenanteil für die Spielzeit 2022/23 ins Tal: an das Loch (15.000 €), die Bandfabrik - Kultur am Rande e.V. (10.000 €) sowie erneut der ort - Peter Kowald-Gesellschaft e.V. (5.000 €), alle Wuppertal.
In der obersten Kategorie (15.000 €) werden desweiteren ausgezeichnet: Klangbrücke (Aachen) sowie Loft 2ndFloor (Köln);
hier Samuel Gapp (l) und Felix Hauptmann (r) am 13.01.23
Samuel Gapp Felix Hauptmann 1

Je 10.000 € erhalten ZAKK (Düsseldorf), Black Box im Cuba (Münster), Bunker Ulmenwall (Bielefeld), Goldkante (Bochum) und das Domicil (Dortmund).
5.000 € gehen jeweils an In Situ Arts Society (Bonn), Jazz Initiative Dinslaken, Jazzkeller Krefeld, Jazzschmiede Düsseldorf und King Georg (Köln).

erstellt: 19.01.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Jeff Beck, 1944-2023

Jeff BeckVielleicht gibt sich demnächst eine/r der elektrischen Kunst auf sechs Saiten Kundige/r die Mühe, ähnlich wie Ethan Iverson, aus subjektiver Perspektive, aber penibel, den Größten zu selektieren.
Iverson hat aus den Big Four des Jazzpianos seinen Favoriten destilliert.
Warum nicht aus Jazzperspektive nun mal den größten Rockgitarristen wählen?
Eric Clapton käme sicher nicht in die engere Wahl, vermutlich blieben nur Jimi Hendrix und Jeff Beck übrig.
Aber, wäre das nicht spannend genug?
Sicher, im Falle Hendrix, fielen die persönlichen Beziehungen prominenter aus; immerhin hat er mehrfach Miles getroffen.
Beck aber hat mit John McLaughlin gespielt, mit Stanley Clarke, mit Jan Hammer, Eddie Harris, nicht zu vergessen Will Lee, auf „Oh!“ (in puncto Grooves ein Hammer-Album!), wo Beck in Hendrix´ „Driftin“ davonschwebt, als sei das Stück immer seines gewesen.
Beck hat Jazzmusiker interpretiert: John Lewis, Charles Mingus, Billy Cobham, John McLaughlin.
In der Hauptsache aber: was für ein timing, das Blues-Feeling, die Blues-Triller, die vamps, die „Stottermelodik“, die extremen bendings, die schweren Shuffle-Grooves, die abrupten Klangfarben-Wechsel, das kontrollierte Feedback!
(Für Jazz-Ohren) das alles in höchster Konzentration auf „Performing this Week“, dem Live-Mitschnitt aus einer Woche im Ronnie Scott´s Club zu London, 2007.
Gerade seiner Andersartigkeit wegen verehren ihn Jazzmusiker. Oder, wie einer von ihnen, Mark Wingfield, in London Jazz News schreibt:
"Mit ein oder zwei Noten auf der Gitarre viel zu sagen, erfordert einen ganz anderen Bereich von Handwerk und Hingabe. In diesem Bereich war Jeff ein Meister. Man hörte ihn zwar nicht 16tel-Noten-BeBop oder Tonleiterläufe spielen, aber was er mit einer Handvoll Noten oder sogar nur einer einzelnen Note anstellen konnte, konnte einen um den Verstand bringen".
(hier ringt der professionelle Beobachter Rick Beato um Worte, um seine Begeisterung auszudrücken.)
Geoffrey „Jeff“ Arnold Beck, geboren am 24. Juni 1944 in Wallington/Surrey, verstarb am 10. Januar 2023 in Wadhurst/East Sussex an bakterieller Mengenitis.
Er wurde 78 Jahre alt.

Foto: Mandy Hall (CC BY 2.0)
erstellt: 12.01.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Applaus "Applaus 2022"!

Klaus und Rita Applaus 1Man möchte dieser Tage wirklich nicht mit Claudia Roth tauschen.
Probleme an Stadtschloß und Humboldtforum, die FAZ quittiert ihr Wirken als Kulturstaatsministerin mit  „Das verlorene Jahr der Kulturpolitik“.
Schön, dass sie dem Berliner Treibhaus für einen Abend entkommen und in Erfurt wortwörtlich Applaus spenden konnte, indem sie 2,45 Mio Euro an Bedürftige verteilt, die nun wirlich keine größeren Summen gewohnt sind.
So partizipiert die Peter Kowald Gesellschaft/ort e.V. Wuppertal zum zweiten Mal in Folge und zum fünften Male insgesamt an der Spielstättenförderung des Bundes.
Dies zwar nur in der untersten Kategorie „beste kleine Spielstätten und Konzertreihen“, wo 10.000 Euro eine Menge Geld sind.
Zufällig befanden sich unsere "ort"-Freunde Rita (Küster) und Klaus (Bocken) gleich neben dem Fotografen (Michael Reichel), und so begann Claudia Roth das erste von rund 100 Gratulationsfotos mit ihnen.
Wir gratulieren herzlich.

erstellt: 17.11.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

Gerd Dudek, 1938-2022

Im Sommer sah ich ihn noch am Decksteiner Weiher; ein älterer Herr unbestimmten Alters, trotz der Hitze schwarz gekleidet, mit Jacket.
Im Vorbeijoggen erkannte ich ihn, warf grüßend die recht Hand in die Höh´. Als ich ihn beim nächsten Mal schon von weitem auf einer Bank sah, startete ich das „Hallo“ frühzeitig mit beiden Händen.
Zwischen 1974-80 wohnten wir Haus an Haus in Sülz; einmal sah ich ihn beim Verlassen des Hauses, einen Saxophonton habe ich von dort nie vernommen (warum auch sollte er in einer Mietwohnung üben?)
csm dudek gerd dez 21 live 3a8cc08b2cEr war der große Schweiger der Kölner Szene. Das berühmte Diktum, der Musiker XYZ drücke sich durch sein Horn aus, traf auf ihn in besonderem Maße zu.
Und es waren nicht nur in Köln etliche, die genau das hören wollten.
Er kam dorthin aus Siegen. Mit 14, 15 spielte er Altsaxophon in einer lokalen Big Band, irgendwann tourt eine professionelle Big Band durch die Stadt, er schließt sich an, zusammen mit seinem Bruder Ossi. Den Job als Bauzeichner hängt er an den Nagel und tingelt die zweite Hälfte der 50er durch die Lande.
Wohin und wann genau, ist schwer zu rekonstruieren; aber dem talentierten Nachwuchsmusiker (so jedenfalls geht es aus einem Gespräch mit Karsten Mützelfeldt hervor) präsentiert sich die junge Bundesrepublik keineswegs düster & muffig, wie immer die Rede davon ist.
Frankfurt, Hanau, Bad Kitzingen, Stuttgart, Jazzclubs der US-Soldaten, große Hotels, nicht nur Jazz, sondern viel, viel Tanzmusik, "die großen Hotels, die waren eigentlich fantastisch für damalige Zeiten, drei Monate in Garmisch im Sommer, das war wie der beste Urlaub".
Hamburg nicht zu vergessen; "ich habe noch Bilder (lacht) mit Oscar Pettiford, ich als 18-, 19-jähriger", im November 1958 sein erster NDR Jazzworkshop mit Pettiford, Kenny Clarke, Hans Koller, Attila Zoller.
Im Februar 1960 holt ihn Kurt Edelhagen in sein Orchester. 1964, die UDSSR-Tournee macht er noch mit; Leningrad zum Beispiel, Frühstück im großen Hotel, "am Nebentisch sitzt Marlene Dietrich!"
Obwohl der Saxophonsatz von Edelhagen "für mich eine unglaubliche Schule war", steigt er im selben Jahr aus; zu viele TV-Shows, zuviel Warterei.
Stilistisch (wenn wir in dieser Hinsicht dem damaligen Eindruck von Manfred Schoof folgen) gleicht er nicht nur Stan Getz, "man konnte keinen Unterschied feststellen, auch mit der gleichen Technik" (in Kisiedu, "European Echos: Jazz Experimentalism in Germany, 1950-1975", Diss, 2014).
Mitte des Jahrzehnts verlagert sich Dudeks stilistischer Schwerpunkt auf das Avantgarde-Dreieck Köln>Wuppertal>Frankfurt.
Als Startpunkt in der Domstadt schält sich der „Kintopp Saloon“ heraus, der Legende nach ein Gewusel aus Edelhagen-Musikern und Amateuren auf 42qm.
Schlippenbach, Liebezeit, Niebergall, Dudek, die späteren Mitglieder des Manfred Schoof Quintetts, aber auch des Globe Unity Orchestra, sie entledigen sich der Bestandteile der Jazztradition dort erfolgreicher als des verrotteten Kintopp-Klaviers - es soll auf Entsorgungsfahrt mit einem anderen Wagen zusammengestoßen sein.
1971 ist Dudek erneut in Frankfurt/Main, nun als Mitglied des Albert Mangelsdorff Quintetts. Es war eine Rückkehr, schon Ende der 50er hatte er beim damals noch nicht "amtierenden Posaunenweltmeister" dessen Saxophonisten Heinz Sauer gelegentlich vertreten.
Dort, so hebt ein Autor hervor, wirkt er am 24. März 1968 tatsächlich mit „bei der Erstaufführung von Peter Brötzmanns ´Machine Gun´“  - beim Deutschen Jazzfestival, vier Tage vor der Aufzeichnung des später legendären Albums in Bremen (dann ohne ihn).
Demselben Autor (Wolfram Knauer) verdanken wir den Hinweis auf das Namensspielerische Stück „Do dat Dudek“, das auf dem Joachim Kühn-Album „This Way out“ (1973) so abgeht, wie der Titel lautmalerisch verspricht: Ornette Coleman-artiges Thema, ein Coltrane´nesk flüssiges Tenor, ein motivischer Improvisator.
Das war sein Markenzeichen, ein technisch brillantes, glänzend angepasstes Tenor, das er - auch auf dem Sopran - beibehielt bei seiner langen, seltenen Doppelgleisigkeit: in der Avantgarde und  im Modernen Mainstream, in dem man ihn in den letzten Jahren überwiegend antreffen konnte.
Gerd Dudek Kreuz 1Kein Zufall, dass sein Tod von einem in Köln maßgeblichen Musiker auf diesem Sektor verkündet wurde,
vom Pianisten Martin Sasse.
Gerhard Rochus „Gerd“ Dudek
, geboren am 28. September 1938 in Groß Döbbern bei Breslau, verstarb am 3. November 2022 in Köln, er wurde 84 Jahre alt.

Über sechs Jahrzehnte war er der Kölner Lyrikerin Ingeborg Drews (1938-2019) verbunden, zuletzt noch am 29. Juli 2022 spielte er anlässlich einer Lesung ihrer Gedichte, u.a. deren Lieblings-Song "Nature Boy" (ab 1:29:50).
Die Beerdigung fand am 23. November 2022 auf dem Hermelsbacher Friedhof in Siegen statt, gefolgt von einem Farewell Concert am 24. Januar 2023 im Stadtgarten Köln.
Am 11. Februar 2023 ein ausführlicher Nachruf in SWR 2.
Manuskript

Foto: Gerhard Richter (Gerd Dudek)
erstellt: 05.11.22 (ergänzt am 08.11.22 und 23.11.22)
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

Pharoah Sanders, 1940 - 2022

Pharoah and the Underground Pharoah Sanders 01Obwohl er noch „in hohem Alter“ regelmäßig aufgetreten sein soll, bleibt dies zumindest diskografisch eine Leerstelle, jedenfalls im Hinblick auf Aufnahmen in eigener Regie.
2021 meldete er sich, nach 20 Jahren Pause, diesbezüglich zurück, mit einer Produktion, in der der britische Elektroniker Floating Points vor dem großen Vorhang des London Symphony Orchestra ihn allerdings wie einen Gast ausstellt, „Promises“.
Ein Album, so darf man freundlich sagen, das „kontrovers“ diskutiert wurde, von einer Mehrheit enthusiastisch begrüßt, von einer Minderheit, zu der wir uns zählen, kritisch beurteilt.
Nun wird es fleißig aufgerufen, aber als „Vermächtnis“ zählt dann doch eher sein Album „Karma“ (1969), darauf der „wahrscheinlich einzige Megahit des Avantgarde Jazz“ (SZ), nämlich „The Creator has a Masterplan“, gesungen und stellenweise gejodelt von dem beeindruckenden Leon Thomas (1937-1999).
Ob dies ein „Megahit“ oder überhaupt ein Hit war, sei dahingestellt.
Nicht ganz falsch aber ist das Gemeinte, die New York Times nennt es „einen Gipfel des hingebungsvollen Free Jazz“ und zielt damit auf das Einfache im Komplizierten:
ein schlichtes Kernmotiv, verwandt dem von John Coltrane in „A Love Supreme“ (1964) und andererseits sich überbietende Expression, bis zur Auflösung von Tonalität und Metrum.
Es war Coltrane, an dessen Seite er ab 1965 zu der Größe wuchs, die ihn befähigte, nach dessen Tod (1967), zunächst auch mit der Witwe Alice, das Erbe fortzuführen - ohne vom Ton her dessen clone zu sein.
Coltrane hatte ihn in seinem eigenen Quintett entdeckt, dessen Plattendebüt vom September 1964 („Pharaoh Sanders Quintet“) mit einem Vokalverdreher falsch betitelt ist.
Den Namen „Pharoah“ nahm er auf Anraten von Sun Ra an; eine seiner ersten Stationen in New York City, wo er 1962 noch unter seinem Geburtsnamen Ferell Sanders eingetroffen war.
Das, was sich mit spirituellen Titeln („Black Unity“, „Elevation“, „Journey to the One“), erweitert auch um afrikanische und indische Einflüsse ausdehnte, bis hin zu einem Ausflug in den Schmusejazz („Love will find a way“, 1978), gab schon damals und erst recht heute wieder Anlaß zu kosmischen Deutungen seiner Musik, die nicht selten eben auch komisch sind.
Er war ein herausragender Tenorsaxophonist, gelegentlich auch Sopransaxophonist und Flötist, eine jazz-historische Gestalt.
Ob auch ein „Visionär“, wie oft herausgestellt, wäre eine eingehende Untersuchung wert - die sich nicht von Titeln verführen lässt.
Pharoah Sanders, geboren als Ferell Sanders am 13. Oktober 1940 in Little Rock/AR, gestorben am 24. September 2022 in Los Angeles, kurz vor seinem 82. Geburtstag.

Foto: Oliver Abels/Wikipedia
erstellt: 26.09.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

Herbie, Chick, Keith oder doch…McCoy?

Ethan Iverson unternimmt auf twitter, woran sich sonst ohne Gesichtsverlust wohl keiner wagen würde:
er stellt ein ranking auf unter den seines Erachtens (und viele werden ihm da folgen) vier besten Jazzpianisten:
„I grew up with the big four: McCoy Tyner, Herbie Hancock, Keith Jarrett, and Chick Corea. There are many other pianists who are just as great but somehow those were the four, at least for my generation“.
Er wägt, differenziert, relativiert - und kommt dann doch zu einem Schluss, nämlich…ach lesen Sie selbst!

erstellt: 21.09.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

Joey DeFrancesco, 1971-2022

Es gehört zu den Klischees über Jazz, er sei musikalisch mitreißend.
Diese Beschreibung ist nicht nur nicht falsch, sie ist sehr zutreffend.
Und wer spontan dazu aufruft, unter den lebenden Ausführenden Listen derer zu erstellen, die besonders nachdrücklich diesen Eindruck hervorrufen, wird darauf mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit seinen Namen finden.
Dabei muss man ihn nicht zwingend auch sehen, um den Eindruck zu beglaubigen, es reichen seine zahllosen Aufnahmen. Etliche Bandleader, von Miles Davis und John McLaughlin bis - in jüngster Zeit - Van Morrison wussten, was sie an ihm haben, die Triller, die Bluesphrasen, die vamps, das „noch-eins-obenauf-Setzen“.
Joey defrancesco ffm 003Ein schöne Beschreibung dieses Wirbelwindes an den Tasten, gibt Lovett Hines, ein Musiklehrer aus Kindertagen, der bis zuletzt mit ihm in Kontakt blieb, in einem Nachruf auf NPR:
„Er war ein Schrecken an der Orgel. Man konnte ihn vielleicht auf der Trompete oder dem Tenor übertreffen, aber sobald er sich an die Orgel setzte, war alles vorbei.“
Lovett spielt an auf die Zweitinstrumente, die er später dazunahm. Den Grund dafür glaubt Christian McBride zu kennen, an dessen Album „For Jimmy, Wes and Oliver“ (2020) er beteiligt war:
„Es gab für ihn an der Orgel nichts mehr zu beweisen. Ich glaube, deshalb hat er Trompete und Saxophon genommen. Ich sagte zu ihm, wenn er jemals Bass spielen würde, müssten wir ein Wörtchen miteinander reden!“
Die Orgel. Dem Vernehmen nach hat er sie im Alter von drei Jahren zum ersten Mal bedient. Er hatte es nicht weit, sein Vater war Organist in Philadelphia, er ließ das Kind gewähren, die Hammond B3 wurde „mein Lieblingsspielzeug“.
Mit 17 bringt er sein erstes (von 30) eigenen Alben heraus, „All of Me“; zu diesem Zeitpunkt, noch in der Highschool, ist er mit Miles Davis auf Europa-Tour und im Studio für das Album „Amandla“.
1990/91 begleitet ihn „Papa“ John DeFrancesco auf zwei Alben, auf „Where were you?“ ist mit John Scofield der erste Gitarrist dabei.
Und dann folgen sie: John McLaughlin, Doug Raney, Pat Martino, Lee Ritenour, Larry Coryell, am häufigsten Paul Bollenback.
Im Jahr 2000 („Incredible!“) sitzt Jimmy Smith an seiner Seite, sein Modell, dem er in manchem gleicht, dessen Einfluss - abgesehen dass DeFrancesco stilistisch einen viel weiteren Rahmen gezogen hat - ihn nur teilweise erfasst.
Insbesondere in den letzten Jahren hat er sich - wenngleich rückwärtsgewandt - an dem orientiert, was er „spritual jazz“ nennt, z.B. „In the Key of the Universe“ (2019), ein Album mit Pharoah Sanders und seinem Langzeit-Drummer Billy Hart.
Joey DeFrancesco, geboren am 10. April 1971 in Springfield/PA, ist am 25. August 2022 verstorben, im Alter von 51 Jahren.
Seine Ehefrau (und Managerin) Gloria gab keine Todesursache bekannt.

Foto: dontworry/Wikipedia (2009, Jazz im Palmengarten, Ffm)
erstellt: 23.08.22
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Rolf Kühn, 1929-2022

Rolf Kuhn Strae 1

Man darf durchaus der Welt recht geben:
er war „Deutschlands coolster Jazzer“.

Ganz sicher war er dessen weltläufigster Repräsentant.
Mehr noch, er hat zuletzt die Geschichte dieser Gattung verkörpert wie kaum jemand sonst, auch nicht in Amerika. 

Denn - bitte festhalten - wer könnte reklamieren, sowohl mit Benny Goodman und Ornette Coleman als auch mit Michael Brecker und Christian Lillinger gespielt zu haben? 

Wer könnte mit einer so grandiosen Anekdote aufwarten, nach dem Verlust des Hausschlüssels bei der Nachbarin geklingelt zu haben - einer Nachbarin namens Billie Holiday - als Rolf Kühn?

Von 1956 bis 1962 hat er in New York City gelebt.
Geboren ist er in Köln. Die meisten seiner Aufnahmen für das legendäre Label MPS hat er in der Domstadt produziert.
Ein kölscher Jung aber ist er nicht, aufgewachsen ist er in Leipzig. Dort hat ihn eine Frau 1947 zum Jazz geführt, die Pianistin Jutta Hipp (1925-2003). 

Hauptpartner war bis zuletzt sein 14 Jahre jüngerer Bruder, der Pianist Joachim Kühn.

Mit seinem Quartett gab er noch im Mai eine umjubelte Tournee

. Im September erwartete man ihn auf dem Multiphonics Festival in Köln und Wuppertal.

Sein Instrument, die Klarinette, übte er zwei Stunden täglich, „mindestens“; lange Jahre im RIAS, in den letzten beiden Jahren, pandemie-bedingt, im Badezimmer seiner Wohnung in Charlottenburg. 

Kostete ihn das Überwindung? „Niemals! Überwiegend ist die Neugierde: was kann man noch alles mit diesem Instrument machen?“

Auf einzigartige Weise hat er sich damit sowohl in der Jazz-Tradition als auch in der -Avantgarde behauptet.
Ausflüge in die „Funktionsmusik“ (er hat für „Tatort“ und „Derrick“ komponiert und das Musical „Hair“ adaptiert) haben seinem Ruf nicht geschadet.

Mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist er per Du. Gleichwohl, im Gegensatz zu Manfred Schoof, Klaus Doldinger, den Brüdern Albert und Emil Mangelsdorff wurde ihm das Bundesverdienstkreuz nicht verliehen; außer dem Kulturpreis einer Berliner Lokalzeitung und dem Echo Jazz (2001) hat er eine wirklich nennenswerte Auszeichnung erstaunlicherweise nicht erhalten. 

Und hier weitet sich die Sache zum Skandal: auch die renommierteste Auszeichnung des deutschen Jazz, der Albert Mangelsdorff-Preis, blieb ihm verwehrt.

Er wurde also doch das, woran wir so recht niemals glauben wollten; er wurde „der Philip Roth des deutschen Jazz“ (der amerikanische Schriftsteller hat seine ewige „Nominierung“ für den Literatur-Nobelpreis nicht überlebt).

Rolf Kühn, geboren am 29. September 1929 in Köln, ist am 18. August 2022 in Berlin an den Folgen eines Oberschenkelhalsbruches gestorben. Er wurde 92 Jahre alt.

Ein ausführliches Gespräch mit Rolf Kühn hier


Foto: Gregor Fischer, Picture Alliance
erstellt: 22.08.22
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Fredy Studer, 1948-2022

fredy studer by ingo hoehn 163Am Freitag, 13. Oktober 2022, wäre der Auftakt in seiner Heimatstadt Luzern gewesen:
Start der "50 Anniversary of OM"-Tour, verbunden mit der Veröffentlichung einer Jubliläums-CD.
Bis zum 6. Dezember wären OM (Urs Leimgruber, sax, Christy Doran, g, Bobby Burri, b, und er) durch die Schweiz, Österreich, Deutschland getourt, mit Abstechern auch nach Paris, Lille und London.
Aus dem Umfeld der Band war schon im Mai zu hören: zwei Mitglieder seien so schwer erkrankt, dass sie unter allen Umständen diese Tour durchstehen wollten.
Einer von ihnen hat es nicht geschafft:
Fredy Studer, einer der renommiertesten Jazz-Schlagzeuger der Schweiz.
Lucas Niggli, der selbst zu den Großen dieser spezifisch eidgenössischen Zunft zählt, stellt ihn in einem persönlichen Pantheon neben Pierre Favre, Daniel Humair und Fritz Hauser.
Studer war ein lauter Drummer, einer, der bei allen Ausflügen den Groove durchscheinen ließ.
"Es mues eifach fahre´, vorgetragen im breitesten Luzerner Dialekt", entnehmen wir dem Nachruf von Peter Bürli im SRF; so formulierte Studer selbst sein Motto.
Sein Spiel, so multi-stilistisch es klingen mochte, war Cymbal-zentriert.
Das war kein Zufall, früh schon war er dem Schweizer Cymbal-Hersteller Paiste verbunden (u.a. als Tester neuer Instrumente). 1975 hat er zusammen mit Jack DeJohnette (mit dem ihn stilistisch nichts verbindet) für Paiste ein sogenanntes "Dark Ride"-Becken entwickelt.
Studer war Autodidakt. Sein „Fixstern“ (NZZ) gleichwohl war … Jimi Hendrix. Über dessen Drummer Mitch Mitchell (1946-2008) kam er, wie etliche seiner Generation, zu Elvin Jones und John Coltrane.
John Bonham, Carl Palmer, Bill Bruford, die Arbeit für Paiste führte ihn mit vielen Kollegen zusammen, in puncto Fachsimpeln wurde er einer der größten vor dem Herrn.
Fredy Studer, geboren am 16. Juni 1948 in Luzern, ist am 22. August 2022 verstorben. Wenige Wochen nach seinem 74. Geburtstag.
Seine Rolle auf der kommenden OM-Tournee wird Gerry Hemingway einnehmen.

Lucas Niggli über Fredy Studer, auf SRF2
erstellt: 23.08.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

 

Wie geht es Keith Jarrett?

Die Frage ist berechtigt.
Der Pianist hatte 2018 zwei Schlaganfälle erlitten. Die Nachricht darüber, in einem großen Artikel in der New York Times im Oktober 2020, enthielt auch die Konsequenz:
dass er nie mehr live werde spielen können.
Seitdem hat man wenig in der Sache gehört.
Die Frage stellt sich nun erneut aus aktuellem Anlaß, weil die Veröffentlichung eines weiteren Mitschnittes aus seiner Europatournee vom Juli 2016 ansteht, nach „Munich“ und „Budapest“ nunmehr „Bordeaux“.
Wenn einer die Frage stellen kann (und darauf auch eine Antwort bekommt), dann Nate Chinen von NPR (National Public Radio), der auch für die NYT schreibt.
Jetzt also telefoniert Chinen mit Keith Jarrett, der daheim auf der Veranda sitzt, die er sein Büro nennt.
Er spaziert dieser Tage, die Umgebung ist schön, das Wetter auch, aber „meine rechte Hand ist nicht mehr so wie früher, von meiner linken ganz zu schweigen“.
Er, über Jahrzehnte Herr der Standards, spielt sie, nein versucht sie auch heute noch zu spielen, aber wie:
„Die einzige Einschränkung mit meiner rechten Hand ist, dass mein kleiner Finger die Melodie spielen muss. Das wäre nicht der Fall, hätte ich beide Hände. Und der Rest meiner (rechten) Hand ist dazu da, so zu tun, als würde ich den Akkord spielen“.
Jarretts Antwort auf die Frage („Du spielst also den Akkord und die Melodie ausschließlich mit deiner rechten Hand?“) veranschaulicht den Verlust dramatisch:
„Ich würde es nicht Akkordspiel nennen. Ich würde sagen, ich suche ein paar der Noten, die funktionieren könnten“.
Offenkundig möchte er von der genannten Tournee auch „Rome“ und „Vienna“ herausbringen, obwohl das Publikum in Österreichs Hauptstadt musste doch auch ermahnt werden.
Immerhin, das Publikum in Bordeaux war gut - Hotel und Essen hingegen, die alte Leier, schlecht.
Nate Chinen veröffentlicht das gesamte Telefonat in leicht gekürzter Form auf der NPR-Webseite.
Warum er die liebedienerischen Passagen drin lässt (“Das ist ja wohl doch ein nationales Verbrechen in Frankreich - einem Künstler in Bordeaux ein minderwertiges Essen zu servieren“), ist ein Rätsel.
Die Tragödie, die sein Beitrag beschreibt, schließt Ironie aus.

erstellt: 11.08.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten