Michael Rutschky: Jazzmusiker hätte ich werden sollen

Ich habe keine Ahnung vom Jazz. Ich kaufe keine Platten - so kann ich an dem Religionskrieg, daß man unmöglich CDs hören darf oder umgekehrt, nicht teilnehmen -, bei Jazzkonzerten bin ich ein nie gesehener Gast; von den einschlägigen Radiosendungen ist mir unbekannt, wann sie laufen, und wenn ich beim spätabendlichen Durchprobieren der Fernsehprogramme auf Jazz stoße, schalte ich nach wenigen Takten weiter.
Ich nehme am Jazz auf profunde Weise keinen Anteil.
Das Merkwürdige ist nun, daß ich dasselbe zwar auch über klassische Musik sagen könnte - ich behaupte gern, ich sei da allergisch: nach wenigen Takten Mozart überzieht sich mein ganzer Körper mit eitrigen Pusteln; von der Einladung in die Oper kann ich mich zu berserkerhaftem Kulturhaß verführen lassen -:
Im Fall des Jazz aber weiß ich immer wieder in Augenblicken von Klarheit und Ruhe, wenn mein Leben als ein gründlich verpfuschtes mir vor Augen liegt, daß es dann und nur dann gerechtfertigt gewesen wäre, wenn ich es als Jazzmusiker hingebracht hätte, in verrauchten Kellerlokalen, mich im Klang des Saxophons verströmend.
Wie soll man das verstehen?
In der Lebenszeit, in welcher man solche Romane auszuarbeiten beginnt, mußte ich das Cello lernen, weil der Musiklehrer des Gymnasiums noch einen Cellisten für das Schulorchester benötigte und meine äußerst aufstiegsbegierige Mutter mich bei den Hausmusikabenden in den Villen der Hamburger Elbchaussee zu erträumen wünschte. Es war schrecklich. Hier muss der Ursprung meiner eitrigen Pusteln bei Mozart zu finden sein.
Verglichen mit dem Cello ist das Saxophon - wir schreiben die fünfziger Jahre - die moderne Welt. Dieselbe Klasse wie abstrakte Malerei, Bauhausarchitektur, das Kino der französische Nouvelle Vague.
Ich war noch zu klein, aber die Generation der älteren Brüder durfte dieses hübsche Mädchen mit Pferdeschwanz und Petticoat in Louis Malles Film "L´ascenseur pour l´échafaud" begleiten; hinterher ging man in Kellerlokale, die "Club 21" zu heißen pflegten, versuchte sich am Rauchen schwarzer Zigaretten, am Trinken von Whisky und am kennerhaften Fachsimpeln über Miles Davis´ Musik zu diesem Film.
Während ich mich im Bett vor der Cellostunde morgen, nach der Schule, grauste: Da ließ es sich mit der süßen Phantasie, wie ich ihnen allen da in dem Club auf dem Saxophon etwas vorzauberte, natürlich leichter einschlafen.
Aber das kann nur die oberflächlichste und einfältigste Schicht meines Jazzer-Romans sein.
Die nächstfolgende ist diese hier. Soziale Aufsteiger werden stets von Absturzängsten gequält. Wenn ich mit dem Cello, also vor dem Schulorchester und dann dem ganzen Palast der legitimen Kultur versage - verschlossen bleiben die Villen der Elbchausssee -, wie kann ich dann das Abitur, das Studium, eine Berufkarriere schaffen, die mich ja gleichfalls in jenen Palast hineinführen soll?
Es trifft sich übrigens, daß einer der größten Aufsteigerromane der Weltliteratur, Stendals „Rot und Schwarz“, auch "L´ascenseur pour l´échafaud“, ´Aufzug zum Schafott´ heißen könnte: Dort unten endet Julien Sorel, geköpft nachdem er es bis ganz oben geschafft hat.
Wenn ich mit dem Cello versagte und es in der legitimen Kultur zu nix bringen würde, will ich sagen, dann blieben immer noch das Saxophon oder die Trompete - so tröstete mich die Phantasie vor dem Einschlafen.
Wir setzen auf die moderne Welt; statt auf die klassische Musik und die Elbchaussee. Wo mich auch noch die hübschen Mädchen anstaunen würden, was letztlich die älteren Brüder eifersüchtig machte. Mutters Tränen der Rührung, nachdem du beim Schulkonzert dein Solo gehabt hast: von so etwas muß man rechtzeitig wegkommen.
Aber in den Kern meines Jazzer-Romans führen doch die Gedanken an Tod und Vernichtung.
Neulich habe ich im TV einen Film über Chet Baker gesehen. Ein zerstörter Mensch mit unendlich sanfter Stimme, im Hintergrund seine überirdische Musik.
Nicht lange davor gab es einen Film über Billie Holiday, die immer ganz unten war und unten blieb und dort auch gestorben ist und deren Gesang in Jean-Paul Sartres Roman „La nausée“ dem Helden Antoine Roquentin das Leben rettet.
WArum soll man so eine lächerliche Gestalt wie Karajan oder Leonard Bernstein werden wollen, heißt es im Zentrum meines Jazzer-Romans, wenn man dergestalt Ruhm und Unsterblichkeit erringen kann?
Als Miles Davis gestorben war, hörte ich morgens beim Waschen den Moderator des britischen Soldatensenders BFBS, bevor er eine Platte von ihm auflegte, leichthin mit dem schönsten understatement feststellen:
„Not a bad thing to be remembered for“. Gar nicht so übel, wenn man wegen einer solchen Musik in Erinnerung bleibt.
Mein Roman erklärt, wie gesagt, warum ich nur, wenn ich mein Leben als Jazzmusiker hingebracht hätte, zu den Gerechtfertigten gezählt worden wäre.
Was im Jazz wirklich los ist, davon habe ich, wie gesagt, keine Ahnung.

erstellt: 1994 für Jazztalk, WDR 5
©Michael Rutschky (1943-2018), 1994