Aus dem Abfallkorb der Jazzgeschichte

Nicholas Payton lebt in einer besonders gebeutelten Stadt.
Die Folgen des Wirbelsturmes Katrina von 2005 sind noch präsent, jetzt entwickelt sich New Orleans nach New York zu einem Hotspot der Corvid-19 Pandemie in den USA.
In dieser Situation tut Payton das, was viele Musiker weltweit auch tun: er spielt daheim.
Er trifft sich mit zwei jüngeren Kollegen aus anderen Feldern der Musik, Cliff Hines und Sasha Masakowski, und nimmt ein Album auf: „Quarantined with Nick“.
Nick P. ist in den 90ern gestartet als Trompeter, dem man zutraute, „das Blaue vom Himmel zu spielen“. Wer, um den Eindruck aufzufrischen, zum Beispiel noch einmal „Payton´s Place“ von 1998 oder „Nick@Night“ von 1999 auflegt, hört nichts Neues, aber furiosen Postbop.
Seit dieser Zeit bläst NP die Backen nicht nur auf, wenn er sein Instrument bedient, sondern auch, um seine Leistung verbal zu untermauern.
Nicht nur in diesem Modus (beispielweise mit dem Versuch, „Jazz“ durch „BAM“ = Black American Music zu ersetzen) ist NP abgestürzt, sondern auch künsterlerisch.
Er kann gar nicht anders, als auch sein Quarantäne-Produkt wieder hochzujazzen, wie im Gespräch mit Nate Chinen von NPR:
„Wir bringen diese New Orleans-Ton, als Erweiterung der Ideen, die Buddy Bolden und Louis Armstrong und King Oliver vor über 100 Jahren gemacht haben.“
Chinen interviewt ihn am 30. März, dem 50. Jahrestag der Veröffentlichung von Miles Davis´ „Bitches Brew“. Und auch das greift er sofort auf:
"Es gab auf diesem Album deutliche Momente, in denen ich eine Verbindung zu den Vorgängern fühlte, fast so, als wollten sie durch das Projekt gehen und einen Beitrag leisten und spielen. Miles war sicherlich einer von ihnen. Auch Freddie Hubbard, was die Trompete betrifft. Auf ´Witness´ gibt es bestimmte Momente, in denen ich mich wie McCoy Tyner fühlte, der durch meine Hände kam und meine Finger führte, um Dinge zu spielen, die ich normalerweise nicht mag. Es gab also eine Menge solcher Momente. Eine Menge Joe Zawinul, als Ergebnis der Arbeit am Synthesizer; eine Menge George Duke. Und ja, ´Bitches Brew´ ist seit vielen Jahren ein bahnbrechendes Werk für mich. Es hatte großen Einfluss auf mein ´Sonic Trance´-Album“.
cover Payton quarantinedWer dieser Hörempfehlung folgt, traut seinen Ohren nicht.
Oder freundlicher formuliert: er bedarf überirdischer Kräfte der Phantasie, um in diesem Teebeutel entsprechende Spurenelemente auszu-
machen.
Eine Trompete erklingt, ja das ist wahr.
Man könnte auch von einem Tatbestand sprechen, der in Kreisen der Jazzpolizei als „Beleidigung post mortem“ aktenkundig ist.
„Witness“ ist track 7 des online-Albums.
Wer sich bis dahin durchgehört hat, wird kaum das Bild unter Kontrolle halten, als habe er in den Abfallkorb der Jazzgeschichte geblickt.
Die ersten tracks klingen, als habe NP seine unmittelbaren Versuche auf der gerade heruntergeladener Sequencer app festgehalten.
Die Übernahme von Robert Glasper-patterns dürften copyright-pflichtig sein.

erstellt: 02.04.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten