Jazzfest Berlin 2018 (IV)

Je weiter dieses 55. Jazzfest Berlin voranschritt, desto weniger war das Musikhören vom ideologischen Ballast der ersten Hälfte umstellt - und desto mehr näherte es sich den Konturen der Vorgängerjahre.
Nadin Deventer übernahm von Richard Williams (und dieser wiederum von Bert Noglik) die Gedächtniskirche als sonntagnachmittägliche Spielstätte.
Als Ort der Kontemplation sind ihr konzeptionelle Grenzen gesetzt, die Ausbrüche von Archie Shepp (mit Jasper van´t Hof, 2014) dürften das Expressivste, der riesige Improvisationsbogen von The Necks 2015 vermutlich das Beste in diesem beeindruckenden Achteck gewesen sein.
2018 wurden zwei estnische Künstlerinnen präsentiert: die Saxophonistin Maria Faust, über die das Programmheft mit der Mitteilung, sie habe sich „als ganz eigene Kategorie im Jazzkanon etabliert“ so weit in eine ferne Zukunft greift, dass man den Jazzkanon schon mal vorwarnen muss.
Ob sie mit ihrem Ensemble der modalen Nettigkeiten bei ihm Eingang finden wird, wagen wir zu bezweifeln.
Wußten die Zuhörer hier noch nicht: ist das noch „Klassik“ oder schon Jazz, mithin: dürfen wir klatschen?, nutzen sie anschließend bei der estnisch-kanadischen Organistin Kara-Liz Coverdale die erste kurze Pause dazu.
Der Fluß ihrer Musik nahm danach einen anderen Verlauf, und man wusste nicht: wurde die Musikerin unterbrochen oder hatte sie es ohnehin so geplant?
Jedenfalls nahm ihre Performance von da an einen deutlich erwartbareren Verlauf.
Die Atmosphäre in diesem Architekturjuwel ist andererseits so ergreifend, dass Kriterien nur schwer festen Halt finden und auch Mittelprächtiges durch den Kontext promoviert wird.

Jazzfest Myhr 1

 

 

 

 

 

 


Kim Myhr ist das, was man in Bayern „ganz a lieber Kerl“ nennt.
2007 war er mit einem Quartett beim Moers Festival, jetzt hat er allein vier Gitarristen in seiner Band. Aber, er wird nicht laut. Niemals. Er lässt mitunter so leise spielen, dass man noch auf dem Rang meint, die Anschlagsgeräusche des hinteren Gitarristen zu vernehmen.
Auch Ingar Zach, der Mann an der Riesenpauke gleich hinter Myhr, holt nie aus, er streichelt das große Fell unentwegt.
Myhr´s Beitrag zu Ästhetik der Gitarre im Jazz ist schwer einzuschätzen. Er spielt keine lines, nicht mal erkennbare Themen, sondern beinahe durchgängig Rhythmusgitarre. Schrumm-schrumm. Die drei anderen auch; die Musik lebt von dem Umstand, dass vier Gitarren - darunter eine 12saitige - nie exakt gleich klingen, sie lebt von einem Schwebezustand, von tonalen Mikroabweichungen.
Dieses „more of the same“ haben schon andere vor ihm durchexerziert, Glenn Branca oder Rhys Chatham, aber deren Brutalität geht den Norwegern vollkommen ab.
Sie pendeln mit wenigen Akkorden 25 Minuten lang über einem 9/4-Takt. Aber es fällt ihnen nicht ein, Kontraste zu setzen, der Bandleader deutet zart Geräuschhaftes an - dann dimmt er die Performance langsam auf Null.
Mary Halvorson, 38, ist hingegen tief verwurzelt in der Jazztradition. Was sie von wem hat, bedarf einer längeren Bestimmung, auf jeden Fall ist sie auf dem Wege zu einem eigenen Standort.
Mary Halvorson war mit vier Konzerten artist in residence beim Jazzfest 2018, davon zwei im Haus der Berliner Festspiele. Einmal im Trio, am Abschlußabend mit einem Oktett. 
Ihre lines sind wenig anschlußfähig, und möglicherweise wird ihr Ruhm als Komponistin den als Gitarristin einmal überflügeln. Daß der Jazz endlich im 21. Jahrhundert ankommen müsse, diese bis zum Überdruß geträllerte Parole, sie wird in den Kompositionen von Mary Halverson wahrnehmbar.
Seit Steve Lehman (2016) hat es auf dieser Bühne keine so komplexe Notenkonstruktionen mehr gegeben. (Ganz zu schweigen von den herausragenden Solisten in dieser Band, z.B. Ingrid Laubrock oder Jon Irabagon).
Für eine Szene, die inzwischen den Parameter Improvisation gar als „Herzblut“ ihrer selbst (miss)versteht, ist das eine wichtige Ansage. Zumal Halverson dabei nichts aus der Asservatenkammer der europäischen Kunstmusik bemüht, wie Tage vor ihr die „Futuristen“ aus Chicago.
Dieses Mary Halverson Octet offerierte, nach viel Nebel, die nahrhafte, neue Substanz dieses Festivals.

Jazzfest Frisell 1


Bill Frisell bekannte hernach, er habe noch nie eine solche Musik gehört. 
Er sei - fasten seatbelts! - „ein alter Mann“, und er habe viel Musik gehört.
„Music is“, die „Deutschlandpremiere“ zum gleichnamigen Album, war weniger „drüch´“, wie der Rheinländer sagt, weniger trocken.
Der Country-Anteil hielt sich in Grenzen, im Gegensatz zum Tonträger ließ der 67jährige zwei überaus anmutige tunes aufscheinen, eins von Burt Bacharach, zum anderen „Arjen´s Bag“ aus dem „Extrapolation“-Album von John McLaughlin, 1969.
Hernach holte der alte Mann die junge Begabung auf die Bühne, sie kennen sich seit einem gemeinsamen Album. 
Sie spielten ein Debussy-Prélude vom Blatt, eine nette Geste, die noch besser gelungen wäre, hätte Frau Halverson den Flanger-Effekt nicht so auf „detuning“ gestellt, als seien ein paar kleine Hunde hinter ihren Saiten gefangen gehalten.


Jazzfest Berlin 2018
, ein Festival im Umbruch, das ist das Mindeste, was man sagen kann. Ein Festival, das weitaus mehr alte Stuktur und Substanz (!) enthält, als es propagiert und propagieren lässt.
Da, wo es am lautesten war (und hier ist nur von den Veranstaltungen im Haupthaus die Rede), brachte es an Substanz zu wenig.
Sollte der Sprach-Hype weitere Kreise ziehen und damit „den Jazz“ mehr ins Gespräch bringen - eine kritische Quelle aus „der Szene  (die anfangs Kopf stand) nähme dies nun billigend in Kauf.
Das wäre für ein Festival dieses Ranges zu wenig.

erstellt: 06.11.18
©Michael Rüsenberg, 2018. Alle Rechte vorbehalten