STEMESEDER LILLINGER QUARTET feat Peter Evans + Russell Hall
UMBRA II RVG Session Acoustic Setting *********
01. Neue Form pt I (Stemeseder, Lillinger), 02. Neue Form pt II, 03. Neue Form pt III, 04. Myokard, 05. Resolution Points, 06. Blendung, 07. Baltum, 08. Mandelbrot Sagittar, 09. STKH p I, 10. STKH p II, 11. STKH p III, 12. Dog, 13. Eau-Forte/Strong Water
Peter Evans - tp, picc-tp, Elias Stemeseder -p, lautenwerk, Russell Hall - b, Christian Lillinger - dr
rec. 09.10.2023
Intakt CD 423/2024
Diese Produktion beantwortet die bange Frage, die sich nicht lange unterdrücken lässt, folgt man Stemeseder, Lillinger & Co. live ihren elektro-akustischen Bemühungen:
„Was geschieht, wenn man ihnen den Stecker ´rauszieht?“
Hier bestätigt sich sozusagen hochprozentig die Vermutung aus jenen bangen Momenten: sie bedienen sich völlig anderer Formen.
Sie spielen eine völlig andere Musik.
Dass es „verblüffende Post-Bop-Darbietungen“ seien, wie sie die liner notes aufrufen, „die Berührungspunkte mit dem zweiten klassischen Miles-Davis-Quintett aufweisen und sogar an die Musik des frühen Wynton Marsalis (…) erinnern“, greift zu kurz.
Bis auf einen kurzen uptempo swing in der Eröffnung ist da wenig.
Und dass Christian Lillinger „die Explosivität eines Tony Williams heraufbeschwöre“ - nun denn, die Assoziationen sind frei, nichts kann sie de-legitimieren, auch wenn sie deskriptiv daneben liegen.
Wenn man aber weiß, dass die beiden Wahl-Berliner mit ihren amerikanischen Freunden für diese Produktion in heilige Hallen sich eingemietet (RVG steht für nichts Geringeres als die Rudy Van Gelder Studios in Englewood Cliffs, New Jersey) und noch dazu in der Aufstellung des Coltrane Quartetts aufgenommen haben, dann dürfen sich schon mal sixties-Assoziationen einstellen.
Zumal man, wenigstens stellenweise, Elias Stemeseder noch nie so nahe bei McCoy Tyner gehört hat.
Nein, der Abstand dieses Quartetts zu den vorgenannten Kanonikern ist tonal, harmonisch & rhyhthmisch so signifikant, dass man doch viel lieber das andere Verlegenheitsetikett für eine erste Annäherung heranziehen möchte: Post FreeJazz.
Diese Musik bietet, vom ersten Ton an, das reine Vergnügen.
Ein Grund: im Gegensatz zu Stemeseders & Lillingers elektro-akustischem Set werden die Zuhörer nicht Zeitzeugen ihres Vorbereitens von Klängen (und damit von Leerzeiten) - die Klänge sind sofort da.
Sie werden umgehend Teil einer Struktur, die ohne weitere Umstände aus dem riesigen Arsenal der beteiligten Kompetenzspeicher befeuert werden kann.
Was Stemeseder & Lillinger hier abrufen und je neu kontextualisieren, übertrifft an Dramatik, Intelligenz & Schönheit um Längen ihre Arbeit an Potis & Pads. Ja, sie begeben sich selbst in eine andere Liga.
Stemeseder scheint sich dieser Divergenz bewusst zu sein. In den liner notes der CD betont er einerseits die „Kontinuität“ der diversen Umbra-Projekte, räumt aber auch ein:
„Was freilich nicht zwangsläufig bedeuten muss, dass die Zuhörenden diese Kontinuität auch wahrnehmen, denn es handelt sich vielmehr um eine prozessuale Kontinuität als um eine stilistische.“
Jawoll, ja. Die Zuhörenden stehen in diesem Disput von Intention & Rezeption auf der sicheren Seite.
Das Wollen der Künstler kann ihnen wurscht sein, sie können vollauf zufrieden sein vom Nachverfolgen des Spieles dieser vier Exzellenzen; von ihren vielen, vielen Kabinettstückchen (ungerechterweise sei nur eines erwähnt: die Triller-Kette von Peter Evans in track 12).
Von den magischen Momenten der Interaktion, die Kontraste & Bögen schafft von einer Eleganz, die man selten vorfindet auf einer Wiese voller Stolpersteine wie Dissonanz, Atonalität, freie Metrik.
Die Produktion schließt mit einem bandstop, d.h. kurzfristig absaufenden Tönhöhen bis zur Stille.
Ein winziges Augenzwinkern im Hinblick auf Studiotechnik.
erstellt: 11.09.24
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