WAYNE SHORTER Celebration Vol. 1 ******
01. Zero Gravity to the 15th Dimension (Wayne Shorter, Danilo Perez, John Patitucci, Brian Blade), 02. Smilin’ Through (Arthur A. Penn), 03. Zero Gravity to the 11th Dimension (Shorter, Perez, Patitucci, Blade), 04. Zero Gravity to the 12th Dimension, 05. Zero Gravity – Unbound, 06. Orbits (Shorter), 07. Edge of The World (End Title from the film “War Games”) (Arthur B. Rubinstein), 08. Zero Gravity to the 90th Dimension (Shorter, Perez, Patitucci, Blade), 09. Lotus (Shorter), 10. She Moves Through The Fair
Wayne Shorter - ss, ts, Danilo Perez - p, John Patitucci - b, Brian Blade - dr
rec. 18.10.2014
Blue Note 2-CD 00602465350685
Dieses Album ist rezeptionspsychologisch interessant. Ja, auch weil es die erste Veröffentlichung nach dem Tod des Künstlers am 2. März 2023 ist. Im Bereich der Literatur spräche man von einem Werk „letzter Hand“; Wayne Shorter hat bis 10 Tage vor seinem Tod daran gearbeitet.
Als die Kräfte so nachliessen, dass er das Kompilieren einstellen musste, beschloss er, den ursprünglich vorgesehen Titel für die Serie („Unidentified Flying Objects“, ganz im Stile seines Faibles für SciFi) einzutauschen gegen eine Überschrift für das, um was es in seinen letzten Tagen ging: um eine Feier des Lebens.
„Ja, Wayne! Lass´uns feiern!!! So muss es (das Album) heissen: ´A Celebration!´“ (eine Feier), wird die Witwe, Carolina Shorter, in den liner notes zitiert.
Blue Note bezeichnet an anderer Stelle das Selektieren des Künstlers aus seinen eigenen Aufnahmen als „Kuratieren“. Und man ist ausgesprochen dankbar, diesen Begriff endlich einmal in seiner engeren Bedeutung zu erfahren - nämlich strikt auf Momente der Musik bezogen.
Begegnet man ihm doch heute überwiegend auf der der Musik abgewandten Seite, als ein Bemühen, das der korrekten Auswahl derer auf der Bühne gilt und immer weniger dem, was sie dort inhaltlich veranstalten.
Wayne Shorters Begeisterung beim Kuratieren bleibt uns nicht vorenthalten. Carolina berichtet darüber:
„Er fing an, rund um die Uhr zu hören. Wenn ich etwas im Haus machte, telefonierte oder arbeitete, rief er: 'Carolina! Du musst kommen und dir das anhören! Hör´mal, was diese Jungs machen!´“
Das ist eine Aufforderung, deren eigentlichen Charakter Chris Frith vor einigen Jahren bei einem öffentlichen panel der Frith Brothers (Chris, der Neurologe, Simon, der Soziologe, Fred, der Musiker) an der University of Edinburgh enthüllt hat.
„Hör´ dir das mal an!“, diese so unschuldige, alltägliche Bitte, so Chris, der ältere Frith mit süffisantem Lächeln, bedeute im Grund nichts anderes als „Hör´ es mit meinen Ohren!“ - ein Ding der Unmöglichkeit.
Mit anderen Worten, man kann das Hörvergnügen eines Anderen nicht en detail nachempfinden, selbst wenn man es teilt.
Angewandt auf diesen Fall, das Hören von „Celebration Vol. 1“, liegt hier ein starkes Moment der Rezeptionssteuerung vor: der Künstler, noch dazu ein äußerst sympathischer Mensch, ist begeistert (von einer Wiederentdeckung), er gibt eine Hörempfehlung an seine Frau, die leitet sie an die Öffentlichkeit weiter.
Wen wundert´s, dass die ersten Rezensionen ihr positives, ja begeistertes Urteil auch auf die genannten Umstände stützen?
Selbst wer musikphilosophischem Räsonieren sich verweigert, kann ein jazz-historisches Beispiel heranziehen dafür, dass man den Bewertungen eines Künstlers nicht folgen muss. Denken wir etwa an die Millionen, die sich per Kauf oder sonstwie artikulierter Begeisterung gegen das Verdikt von Keith Jarrett („zu viele Wiederholungen, CDs einstampfen“) von seinem „Köln Concert“ haben mitreissen lassen.
„Celebration Vol. 1“ also markiert den Auftakt einer Serie von unveröffentlichen Aufnahmen, kuratiert von Wayne Shorter. Die erste Folge stammt aus einem Konzert vom 18. Oktober 2014 in der Stockholm Concert Hall, anlässlich des Stockholm Jazz Festivals.
Es wird nicht deutlich, ob das Album den Abend chronologisch wiedergibt. Dagegen spräche, dass Shorter die sehr lose „Suite“ unter dem Titel „Zero Gravity“ mit ihren vier Segmenten durch eine Fremdkomposition, nämlich Arthur Penns Ballade „Smilin´ through“ (1919) unterbricht.
Das Stück stammt aus der Frühphase dieses Quartetts, man findet es 2002 auf dem Album „Beyond the Sound Barrier“.
„Zero Gravity“ (mit der Erweiterung „… to the 10th Power“) taucht hingegen im groben Zeitfenster dieses Konzertes auf, nämlich auf „Without a Net“, 2011.
Die beiden Stücke bzw. ihre Interpretationen auseinanderzuhalten, ist insofern nicht unbedeutend, weil das Penn-Stück deutlichere Bezüge einer gemeinsamen thematischen Arbeit erkennen lässt.
Davor hat man an die 12 Minuten von „Zero Gravity to the 15th Dimension“ gehört, ein Geplänkel von Phrasen, ein Austesten von Gedanken, eine Vorgabe von Mustern - ohne jede Verkettung zu einem irjenswie tragenden Bogen.
Vom Rückenwind der Shorter´schen Begeisterung getrieben fragt man sich, woran sie sich denn wohl entzündet haben mag.
Das geht so an die 26 Minuten. Bis ein Pfiff ertönt! Tatsächlich ein Pfiff.
Wayne Shorter mochte dies gelegentlich. Dazu gibt Danilo Perez die ersten vier Töne eines Themas vor, des Themas von „Orbits“. Ein Juwel aus dem großen Shorter-Kanon, Premiere auf „Miles smiles“, 1966.
Mit diesem Quartett hat er es auf „Alegria“ (2002) und „Without a Net (2011) angepackt.
Und auch in Stockholm 2014 kommt damit urplötzlich Leben auf die Bühne. Es scheint, als kletterten die vier auf den Sprossen des 10-Töne-Themas auf einen anderen Energie- und Interaktionslevel. Fragmente bleiben nicht isoliert, sie werden verkettet, eröffnen neue Zusammenhänge. Perez´ Piano perlt wie nie zuvor, John Patitucci wechselt die patterns, darunter ein walking bass, Brian Blade löst sich aus dem Hintergrund, man nimmt dankbar die für ihn typischen rhythmischen Injektionen zur Kenntnis.
Und die Kürzelmelodik des Bandleaders, zunächst auf dem Tenor-, dann auf dem Sopransaxophon, sie macht endlich Sinn: sie schwimmt obenauf.
Eine Minute vor Schluss ein plagaler Schluss (wie er wenig später, in „Lotus“, zu einem prägenden Gestaltungsmittel wird), es das Signal zur Coda mit einem weiteren tool aus der klassischen Werkzeugkiste des Modernen Jazz: drum-solo gegen riff.
Das Quartett bewegt sich endlich auf der Flughöhe seiner anderen Alben, ja seiner Konzeption: mit den Bestandteilen einer Komposition zu jonglieren, ohne dass eines herabfällt, will heißen immer im Bewußtsein der Form.
Warum das gerade mit „Orbits“ gelingt, kann man einer Studie entnehmen, die schon über die Erstfassung vor über fünfzig Jahren befindet:
„Orbits ist der Inbegriff der motivischen Improvisation auf der Grundlage der Melodie einer Komposition.“ (Keith Waters: The Studio Recordings of the Miles Davis Quintet, 1965-68; Oxford, 2011)
Nichts davon trifft auf den folgenden track zu, „ Edge of The World“ von Arthur B. Rubinstein, (aus dem Film “War Games”, 1983), eine linear gespielte Ballade mit geringen Variationen. Auch dem flächigen Abschluß der „Zero Gravity“—Suite (wenn man sie denn so charakterisieren will) wohnt kein Zauber inne.
Er dient bestenfalls als Intermezzo zu dem letzten Hochplateau dieses Albums/Konzertes, die vierzig Minuten aus „Lotus“ und dem irischen traditional „She Moves Through The Fair“, hier fälschlich als Komposition Wayne Shorter zugewiesen.
Beide hat man zuletzt auf „Emanon“, 2016, gehört. Beide sind Improvisations-Dramen, in denen das Ensemble sein Potenzial entfaltet. Sie sind gespickt mit individuellen Einfällen, die das Kollektiv anstecken. Genau das Ideenfeuerwerk, das man von diesem Quartett erwartet und eingangs vermisst hat.
In „Lotus“ wird zunächst das Thema ausführlich variiert, bevor das eigentlich Drama abhebt. „…through the Fair“ beginnt sogleich improvisatorisch, das Thema folgt später.
Beide Stücke sind dermaßen von Brüchen und Kontrasten durchsetzt, dass man - wie gesagt - geradezu von plagalen Schlüssen sprechen mag. Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt ein neuer Dreh, ein neues riff, daher.
Wenn man einen spiritus rector des Wandels ausmachen mag, dann dürfte es Danilo Perez sein. Er ist derjenige, der das permanente call & response (in einem weiteren Sinne) dieser Improvisationskultur stimuliert.
Gut möglich, dass die Signale des Entzückens, die Carolina bei Wayne vernommen haben will, hier ihren Ursprung haben. Man möchte den beiden dieses Erlebnis des „Wiederhören macht Freude“ auch nicht nehmen.
Nur, neu waren diese Momente der Brillanz 2014 nicht (mehr), sie gehörten unter aufmerksamen Zuhörern längst zum Erfahrungsschatz und waren damit Teil der Erwartung geworden. Jene dürften bestenfalls aus Gründen der Vollständigkeit diesen Teil des Kanons sich zulegen.
erstellt: 23.08.24
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