EMILE PARISIEN QUINTET Sfumato live in Marciac *******

01. Le Clown tuer de la Fete Foraine I (Parisien, Touéry, Gélugne, Darrifourcq), 02. Le Clown tuer de la Fete Foraine II, 03. Le Clown tuer de la Fete Foraine III, 04. Temptation Rag (Henry Lodge), 05. Transmitting (Joachim Kühn), 06. Balladibiza I (Parisien),  07. Balladibiza II (Parisien), 08. Missing a Page (Kühn)

Emile Parisien - ss, Joachim Kühn - p, Manu Codjia - g, Simon Tailleu - b, Mario Costa - dr, Wynton Marsalis - tp (04, 05), Michel Portal - bcl, Vincent Peirani - acc

rec. 08.08.2017
ACT 6021-2

Was macht His Wyntoness in der Gascogne, in Südfrankreich, beim Festival in Marciac?
Dass der Kardinal des französischen Jazz, Michel Portal, beim besten Ministranten vorbeischaut - normal. Das hat er auch schon 2016, bei der Studioproduktion von „sfumato“ getan.
Aber Wynton Marsalis?
Nun, das 1.300 Seelen-Städtchen liegt ihm nach New Orleans, seiner Geburtsstadt, am nächsten. Seit 1991 tritt er dort im August auf, er ist zum „Paten“ des Festivals avanciert, 1999 hat er dort mit seinem Septett die „Marciac Suite“ produziert.
Die Festivalwebseite zeigt ihn im vergangenen Jahr mit dem irakischen Oudspieler Naseer Shamma sowie mit dem französisch-libanesischen Trompeter Ibrahim Maalouf; in diesem Jahr trat er erneut mit letzterem auf.
Emile Parisien wiederum, der aus dem keine 200 km entfernten Cahors stammt, hat seine Beigeisterung für den Jazz in Marciac entdeckt; 2017 war er dort Artist In Residence.
Cover Parisien Sfumato LiveDie CD (nicht aber die begleitende DVD, die hier nicht besprochen wird) beginnt mit der schon von „sfumato“ bekannten Suite "Le Clown tuer de la Fete Foraine", noch gemeinschaftlich komponiert von der voraufgehenden Parisien Gruppe. 

Vincent Peirani steigt a capella mit Musette-Anleihen ein, es ist seine deutlichste Rolle in diesem Mitschnitt.
Den zweiten Teil beginnt Portal solistisch über einem rubato, das sich peu a peu in einen Rock-Beat wandelt, der schließlich insbesondere unter dem Gitarren-Solo von von Manu Codjia deutlicher exponiert wird.
Codjia lässt einen pieseligen Gitarren-Ton hören, er ist - wie schon in der Studiofassung - wirklich nicht auf dem Niveau der anderen Musiker, von den exzellten Bläsern zu schweigen.
Den dritten Teil der Suite, unter wimmernd ausklingenden Gitarren-Sounds, übernimmt der Bandleader, über einem rhythmisch simplen vamp. Was Parisien hier vorführt, interaktiv sehr schön verkettet mit dem Schlagzeug von Mario Costa, ist in allen Aspekten atemberaubend: Tongebung (wieder in Richtung Duduk), Intonation, Phrasierung.
Prasselnder Beifall nach dem gedreckselten Schlussthema dieser Suite.
Parisien & Peirani beginnen den „Temptation Rag“, halten ihn rhythmisch so, dass er auch Reggae sein könnte. Nach 20 Sekunden steigt Wynton Marsalis ein. Das Trio geht auf in einer Varianten-Heterophonie, wie sie für den frühen Jazz typisch ist.
Zur Hälfte verlassen sie den zackigen Rhythmus, dehnen die Figuren, nehmen wieder Tempo auf, lassen die Leinen lockerer schwingen, im Schluss-Rag tritt immer mal wieder einer solisisch vor, das Schlussthema kommt punkt zwölf - erneut prasselnder Beifall.
„Temptation Rag“ zeigt in nuce den Charakter dieser Veranstaltung: ein Virtuosentreffen, ein Festival-Format, das aufs Publikum zielt, dem „sfumato“-Konzept aber außer ein paar Gast-Soli keinen neuen Gedanken abgewinnt.
„Transmitting“, das Joachim Kühn auf dem ersten Album seines neuen Trios eingeführt hat („Beauty & Truth“, 2015), gewinnt mit seinem arabischem Flair deutlich gegenüber dem Trio-Original. Kurios, dass hier auf einen Wynton Marsalis, der sein Instrument wie eine Feuerwehrspritze führt, solistisch einer aus der dritten Reihe folgt (Manu Codjia).
Wie im Studio eröffnet Parisien „Balladibizia I“ auf dem Sopran näselnd im Stile einer Duduk. Thematisch führt er es in eine Art Trauermarsch.
„Balladibizia II“ übernimmt Joachim Kühn mit einer berauschenden Solo-Kadenz. Es ist ohnehin sein Abend.
Wir dürfen das gedehnte ostinato-Thema von „Balladibizia II“ mit seinen Bass-Injektionen von Simon Tailleu nicht vergessen, aber mit „Missing a Page“ legt Kühn zum Abschluss noch einmal ein uptempo swing Surfbrett der ganz schnellen Sorte vor.
Emile Parisien hat seit Jahren Gefallen daran. 2014 hat er das Stück in Köln mit einem Trio gespielt, das leider kurze Episode blieb (mit Petter Eldh und Jonas Burgwinkel).
Nach einem Ornette Coleman-artigen Thema darf jeder mal abdrücken: Manu Codjia gelingt das leidlich, dann fliegt Michel Portal ab.
Der Mann ist 82 (!) und führt ein Drama mit überschlagender Stimme vor, Komponist Kühn übernimmt, der zweite Weltklassespieler!
Und dann folgt der nächste, der Bandleader Emile Parisien.
Das Tempo zieht noch mal an, Mario Costa weiß, was zu tun ist: er lässt die Hi Hat mitlaufen. Der Chef ist dran!
Man meint Coltrane´s sheets of sounds zu hören, aber nein: Parsien phrasiert durch, in diesem Affentempo ist ein jeder Ton abgesetzt vom nächsten, manche bekommen besonderes Gewicht, es sind Aufschreie.
Das Ensemble nimmt sie auf, aber nur kurz. Sie dürfen sich damit fallen lassen, sie müssen wie von Geisterhand dirigiert das Schlußthema von Joachim Kühn durchpeitschen.
Man sieht es nicht, aber man ahnt - die Zuhörer springen auf.
Und mit ihnen wohl auch His Wyntoness. Er ist bei diesem Stück nicht dabei; er kann ihm nichts mehr hinzufügen.

erstellt: 03.08.18
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