BRAD MEHLDAU After Bach *********

01. Before Bach: Benediction, 02. The Well-Tempered Clavier Book I, BWV 848: Prelude No. 3 in C# Major , 03. After Bach: Rondo , 04. The Well-Tempered Clavier Book II, BWV 870: Prelude No. 1 in C Major , 05. After Bach: Pastorale , 06. The Well-Tempered Clavier Book I, BWV 855: Prelude No. 10 in E Minor , 07. After Bach: Flux , 08. The Well-Tempered Clavier Book I, BWV 857: Prelude and Fugue No. 12 in F Minor, 09. After Bach: Dream , 10. The Well-Tempered Clavier Book II, BWV 885: Fugue No. 16 in G Minor , 11. After Bach: Ostinato, 12. Prayer for Healing

Brad Mehldau - p

rec. 18.-20.0420167
Nonesuch7559-793418-0

Wieviel Bach steckt in Mehldau?
Schon bevor er dieses Bach-Projekt in Angriff nahm?
Das ist eine Frage, die am Jazz-Stammtisch nicht mit ein paar Daumenbewegungen auf dem mobile-display bei Wikipedia entschieden werden kann. Dazu braucht´s schon richtig Expertise.
Timo Andres hat genau hingehört. Er hat z.B. dort, wo Mehldau „Smells like Teen Spirit“ oder „Blackbird“ interpretiert, eine ähnliche Herangehensweise entdeckt zu der, wie Bach eine Fuge oder einen Lutherischen Choral bearbeitet.
Timo Andres, geboren 1985 in Palo Alto/Kalifornien, ist laut Wikipedia „an American composer and pianist“, und ein ungemein produktiver dazu. Seine liner notes zu diesem Album - die mehr sind, eher ein kleiner Essay - sind schon die halbe Miete.
Andres erklärt sehr genau, was Mehldau macht: 
wenn er Bach vom Notentext her interpretiert, dass er eben nicht „sklavisch“ (wie Max Roach das mißverstehen würde) der Partitur folgt, sondern dass „unerwartete Noten hier und da aus der Textur springen, die Musik anregen, sie nicht unbedingt ins Swingen bringen, aber in ein trällerndes Tanzen - so dass man sich wundert, ob er nicht hier auch schon improvisiert.“
cover mehldau bachAndres beschreibt hier track 2, das Vorspiel in Cis Dur aus dem Wohltemperierten Klavier, den Gassenhauer unter den fünf Vorlagen, die Mehldau erst im „Original“ vorstellt und dann improvisatorisch fortspinnt.
Mit track 3, „After Bach: Rondo“, fühlt man sich schon nach wenigen Takten in Mehldau-Land.
Das Tempo wird heruntergefahren, und nach allerspätestens 30 Sekunden, wenn er das ostinato in den Baß legt und dann beide Spielhände in gleicher Dynamik immer mehr zusammenführt, sind die Abweichungen ohrenfällig.
Nach Andres´ Beobachtung bringt Mehldau sein Faible für das Eintauchen vertrauter Melodien in kaputte Rhythmen hier zum Ausdruck, indem er Bach´s 3/8 kurzfristig mal auf 20/16 aufpumpt.
Ja, wer hört denn das?
Den eindeutig jazzigen Charakter aber nehmen wir schon wahr, und Andres erklärt ihn uns damit, dass Mehldau einen leichten Mollschatten über die ursprüngliche Dur-Struktur wirft.
Wenn wir den im vergangenen Jahr verstorbenen Jazzprofessor Ekkehard Jost richtig abgspeichert haben, würde er die Methode Mehldau wohl als motivische Improvisation bezeichnen (die ihm, weil zu wenig „free“ im vorliegenden Fall, wohl nicht zugesagt hätte).
Quasi semi-Jost´isch geht Helmut Mauro (SZ vom 9.3.18) vor.
Er führt eine Menge Indizien an, warum „After Bach“ eine reife Leistung ist, pieselt dann aber zwei Bedenken in den vollmundigen Wein, die mal wieder der schrägen Jazz-Geschichtsphilosphie der Münchner geschuldet sind:
Brad Mehldau ist demnach „ein Mainstream-Erfolgsmodell“ (naja), und - jetzt kommt´s - er sei „stadion-kompatibel“ (wo hat Mehldau je die Ränge gerockt?)
Er betreibe - fasten seatbelts again - „Qualitätspopulismus“.
Wir verstehen: in der Liga, in der Brad Mehldau spielt, dürfte er das, was er kann, eigentlich gar nicht können. Oder so ähnlich.
Er macht´s einfach.
„After Bach: Pastorale“, also das improvisatorische Fortspinnen von „Prelude No. 1 in C Major“ beginnt Mehldau erst nach einer halben Minute zweistimming, ein erstes Indiz, dass er sich in seiner Lesart weiter von Bach entfernt.
„After Bach: Flux“ trägt einen zutreffenden Titel; es ist die jazzigste von allen Improvisationen. Er variiert das Thema des „Prelude No. 10“ in höherem Tempo und schält es heraus, als gelte es, eine Brücke zu Pop zu schlagen. 
Hier trifft Mauro zu: „Mehldaus Bach-Improvisationen sagen uns: Rhythmus war gestern, Musik ist vor vielleicht doch vor allem Melodie.“
Das leicht rockende Fundament, manchmal auf eine Tonwiederholung in der linken Hand reduziert, bevor er dann mit beiden wieder aufbricht, hat etwas Beschwingtes.
„Prelude and Fugue No 12“ werden in „After Bach: Dream“ noch weiter entschleunigt.
In „After Bach: Ostinato“, wiederum zutreffend betitelt, hält Mehldau über 12 Minuten lang ein G ostinat, in permanenter Wiederholung, in der linken Hand - bis auf 4 Takte am Schluss, wo es einen Halbton nach oben rückt.
Andres´ Text erweist sich auch hier als Hörhilfe, als Bestätigung dessen, was man zu hören meint, aber nicht recht traut zu sagen.
„After Bach: Dream“ ist eine große Piano-Predigt a la Mehldau.
Im Schlußtrack, „Prayer for Healing“ lässt Mehldau alle Polyphonie fahren und konzentriert sich auf langsame akkordische Fortschreitungen. Es ist ein langer, 11minütiger Ausklang, abseits aller Kunstfertigkeiten.
Für SZ-Mauro rutscht er damit „in die Kitschfalle“. Kann man so, muss man aber nicht so bewerten, es ist eine extrem subjektive Kategorie.
Im Stadion entstünde bei diesem meditativen Innehalten Gedränge.
An den Ausgängen.

erstellt: 16.03.18
©Michael Rüsenberg, 2018. Alle Rechte vorbehalten