Musik & Ästhetik, 86

Musik und Ästhetik, gegründet 1995, herausgegeben vom Leipziger Komponisten und Musikwissenschafter Claus-Steffen Mahnkopf u.a., ist ein intellektuelles Forum (zumeist) der Neuen Musik.
Zu den Zielen zählt z.B. „Entwicklung und Verbreitung ästhetischer Reflexion in und über Musik“.
Das Niveau ist hoch, zu den Autoren gehören u.a. unser guter Freund Andreas Eichhorn, Christian Grüny, der Co-Herausgeber Richard Klein, Guido Kreis, Martin Seel, auch Daniel Martin Feige; seine „Philosophie des Jazz“ wurde dort rezensiert.
„Zum kompositorischen und instrumentalen Schaffen“ von Nils Wogram gab es 2014 eine Analyse von Adrian Kleinlosen (wir kommen auf ihn zurück).
Ansonsten, kaum überraschend, wird Jazzin den vertrauten Worten unserer kleinen Welt - in dieser Vierteljahresschrift „marginalisiert“.
Das wird mit der jüngsten Ausgabe, Heft 86, April 2018, schlagartig anders.
Musik und Asthetik 4 2018Von insgesamt dreizehn Beiträgen haben sechs einen klaren Jazz-Bezug.
Uns soll zunächst der Mittelteil interessieren, Forum genannt, der pro Heft wechselnden Szenen oder Musikfeldern gewidmet ist, diesmal „Jazz“.
Die Auswahl der Autoren, ihre Stellung in der Szene, ist durchaus repräsentativ zu nennen: ein Jazzfunktionär (Wolfram Knauer, Jazzinstitut Darmstadt), ein Jazzpublizist (Christian Broecking), ein Jazzmusiker, der gern den intellektuellen Überflieger gibt (Christopher Dell).
Aber auch alls Textsorte repräsentieren die Beiträge typisch die deutsche Jazzwelt: in Form begründungsarmer Behauptungen, die den Jazz irjenswie in den politischen Raum zu bugsieren versuchen, von dem sie eine sehr romantische Vorstellung haben (Knauer, Broecking). Oder als Wiederholung längst geschlagener Schlachten, deren Erkenntniswert im Dunkeln bleibt (Dell).
Gemeinsam ist ihnen eine Haltung, die Björn Heile (Glasgow) so charakterisiert:
„Nur der Jazz hat Improvisation in den Rang einer Ideologie erhoben.“
„Was wäre denn politischer als die Utopie erschaffen?“ fragt Wolfram Knauer.
Und weil für ihn musikalische Praxis widerspruchslos mit gesellschaftlicher Praxis übereingeht, kommt er auf sehr kurzem Wege zu einer Antwort. In ihr spielen nicht politische Konzepte, sondern das Zaubermittel Improvisation die zentrale Melodie:
„Und doch wird gerade Jazz, wird gerade die Improvisation nach wie vor als etwas ungemein Politisches wahrgenommen - von denen, die sie machen, genauso wie von ihren Hörern und selbst von denjenigen, denen diese Musik ein Buch mit sieben Siegeln bleibt.“
In diesem Bild legt sich das Politische am Jazz wie Mehltau übers Land - vielleicht wird er deshalb auch in der Welt der realen Politik nicht wahrgenommen. Alle erkennen es (angeblich), aber was sind die Folgen?
Bei Christian Broecking bringt das Zauberwort zwei Teile ein und desselben Satzes in Konflikt miteinander:
„Es ist bekannt, dass Improvisation per se weder moralisch, ethisch, fortschrittlich, rebellisch noch visionär ist, die Jazzimprovisatoren jedoch spielten eine aktive Rolle in der Artikulation von sozialer und politischer Vision.“
Im Vorderteil wird Improvisation - zutreffend - als ein neutrales Werkzeug dargestellt. Im zweiten Satzteil aber mutiert dieses Hilfsmittel durch den Zugriff von Jazzmusikern zu einem Träger eminent wertender, vermutlich positiver Aussagen.
Wie ist das möglich? Die „Jazzimprovisatoren“ müssen also etwas außerhalb ihrer improvisatorischen Praxis Liegendes zur Anwendung gebracht haben.
Broecking „belegt“ seine Hypothese kurioserweise durch ein Beispiel, das keineswewgs Improvisation enthält, sondern das man umstandlos als Komposition bezeichnen muss.
Er verweist auf den Trompeter Ambrose Akinmusire, der z.B. auf einem Stück („My name is Oscar“) mit verhaltener Stimme über einem Perkussionsteppich Zitate eines durch kalifornische Polizisten getöteten Afro-Amerikaners einspricht („My name is Oscar“, „I am you, don´t shoot“ und „We are the same“).
Selbst wenn man einem Satz wie „We are the same“ mit größtem Wohlwollen den Charakter einer „politischen Vision“ zubilligen will - was ist damit im realen gesellschaftlichen Leben gewonnen, noch dazu in den hoch-erregten Momenten solcher Ereignisse?
(Außer, dass den Käufern/Hörern von Akinmusire die Illusion vermittelt wird, sie stünden auf der richtigen Seite?)
Die Frage nach der Erkenntnis stellt sich insbesondere nach der Lektüre von Christopher Dells Beitrag. Er ist offenbar von der Annahme beseelt, nur mit Schwenken des Weihrauchfasses von Gevatter Theodor Wiesengrund könne man im deutschen Jazz als Intellektueller beglaubigt werden.
Der Autor Dell, als Vibraphonist überragend ausdrucksstark, beschäftigt sich demzufolge überhaupt nicht mit Jazz, sondern mit „Improvisation (bei Adorno)“.
Die Voraussetzung erscheint ihm bestens, denn: „Adorno selbst hielt nichts von Improvisation…“.
Also exhumiert Dell einen Vortrag Adornos aus dem Jahre 1961, wo jener „auf ganz neuartige Weise die Thematik der Komposition reflektiert. Es ist eine Weise, die die Komposition selbst an ihre Grenzen und, so meine These, zur Improvisation hinführt.“
Mag sein. Mag auch sein, dass Getaufte darin Spurenelemente von neuen Einsichten erkennen.
Der Rezensent war nicht bereit, zumal unter dem Signum Forum: Jazz, Sätze zu entschlüsseln, die bisweilen über neuneinhalb Zeilen übers Papier mäanderen.
Die deutsche Jazzpublizistik, zu Gast auf fremdem Terrain, eine verpasste Chance; Anschlußfähigkeit an externe Diskurse sieht anders aus.
Wie gesagt, soviel Jazz in „Musik und Ästhetik“ war nie. Hans-Jürgen Linke liefert einen nüchternen Kongreßbericht über das letzte Jazzforum Darmstadt ("100 Jahre Jazz - (k)eine Heldengeschichte“).
Gelungene Beiträge kommen von Autoren am Rande der vertrauten deutschen Jazzpublizistik.
Krystoffer Dreps, Jahrgang 1982, der in Leipzig Jazztrompete und Komposition studiert hat und an der Musikhochschule Münster lehrt, hat ein schwieriges Buch gelesen - und verstanden (Christian Müller „Doing Jazz - Zur Konstitution einer kulturellen Praxis“, Weilerswist, 2017).
Dreps stellt bei Müller einen Aspekt heraus, von dem zuvor Georg Bertram berichtet, dass Adorno davon keine Ahnung hatte:
„Müller gelingt es, durch den Fokus auf die Interaktion von Jazzmusikern einen (wenn nicht den) zentralen Aspekt des Jazz auf eine Weise herauszuarbeiten, den weite Teile der Jazzliteratur (…) bisher so nicht verdeutlichen und vor allem nicht so feinmaschig argumentierend nachzeichnen konnten.“
Leider beschränkt sich Adrian Kleinlosen bei seiner Analyse der Musik der Trios von Michael Wollny auf dessen „Klangbibliothek“ und lässt den Aspekt Interaktion unterbelichtet. Der Posaunist Kleinlosen, Jahrgang 1987, war mal im Bundesjazzorchester, hat sich aber nach einem Studium in Leipzig bei Mahnkopf mehr auf Komposition verlegt.
Sein Zugang zu Wollny ist wohlwollend, aber weniger emphatisch als in der deutschen Jazzpublizistik üblich. Er arbeitet vier typische und stil-bildende Elemente heraus:
1. das Interessse an der Vertikalen, mithin Harmonik,
2. die Verschleierung des Metrums,
3. das Gleichgewicht von Komposition und Improvisation bzw. die Absage an das Primat der Improvisation,
4. der Fluss der Musik, der von keinen Brüchen gestört wird.
Da ist dann, begründet, von einem großen Talent die Rede, aber nicht von dem Ausnahmemusiker, als der er uns immer präsentiert wird.

erstellt: 26.04.18
©Michael Rüsenberg, 2018. Alle Rechte vorbehalten