CHRIS POTTER Circuits *****

01. Invocation (Potter), 02. Hold it, 03. The Nerve, 04. Koutomé (Vicky), 05. Circuits (Potter), 06. Green Pastures,  07. Queens of Brooklyn,  08. Exclamation,  09. Pressed for Time (Francies)

Chris Potter - ss, ts, bcl, fl, g, keyb, perc, Eric Harland - dr, James Francies - keyb, Linley Marthe - bg (3,4,5,8)


rec. 09/2017

Edition Records ECN1123

Es gibt einen Typus Musiker, über den pflegte man früher zu sagen: „Der kann das Blaue vom Himmel spielen!“
Chris Potter gehört in diese Kategorie.
Vom Instrument her scheinen ihm keine Grenzen gesetzt. Und damit sind fast alle woodwind-instruments, alle Holzblasinstrumente, gemeint.

(Potter könnte - kleiner Scherz am Rande - viel besser als Klaus Doldinger Peter Brötzmann imitieren, wie jener 1967 in der legendären ARD-TV-Free-Jazz-Debatte).
cover potter circuitsIm Ernst; man ziehe nur mal den enggesetzten, unisono geführten Bläsersatz im Eröffnungstrack heran, wo er sein ganzes Gebläse (s.o.) auffährt.
Oder das in einem Affentempo geführte Thema in „Exclamation“.
Unklar bleibt, wer dabei auf dem keyboard mithält - ist es der Bandleader selbst, zu dessen hier eingesetzten Instrumentarium auch „keyb“ gehört?

Oder ist es der auf diesem Posten hochgelobte James Francies? (der bei dieser Session freilich eine überwiegend bescheidene Vorstellung gibt).
Ein jedes noch so kurze keyb-Solo bei Anton Eger besitzt mehr Esprit als (fast) alles von Francies hier.
Francies kommt erst zu Soul, zu einem Ausdruck, in dem von ihm komponierten Schlussstück, das er a la Robert Glasper einleitet, mit einem geradezu auftrumpfenden Eric Harland.
Nach drei ECM-Alben wollte Potter mal wieder was mit Groove machen:
„I was kinda itching to get back into grooveland, and I was talking to Eric Harland about it.“
Vollkommen richtig. Wir können es hören. Insbesondere in diesem track 9, wo Potter & Harland alles an die Wand spielen, was sich ihnen in den Weg stellt.
Der Rapport der beiden - Potter auf dem Tenor, Harland mit Kombinationen auf snare, bassdrum und ridecymbal - ist umwerfend. Dazu Francies´ Fender-Rhodes-Wolken, die er immer enger zusammenzieht - man möchte aufspringen!
Und sich auch nicht wieder hinsetzen, als Potter dem Kerle den Platz überlässt und der mit einem Ringmodulator-Gewitter Harland in den Wahnsinn treibt.
"Pressed for Time". Genau! Wir haben verstanden!
Es ist der Höhepunkt - der nicht zur Veranstaltung passen will.
Und die ist bildlich treffend in den Schaltkreisen auf dem Cover charakterisiert: ein in vorgezeichneten Bahnen verlaufender Jazzrock, der eine jede Kurve erahnen lässt. Eine Feier des Handwerks, ein Trockenfluss der Ideen.
Über weite Teile ist das genau die Art Jazzrock, die Kritiker in Unkenntnis des Genres diesem vorwerfen.

erstellt: 01.03.19
©Michael Rüsenberg, 2019. Alle Rechte vorbehalten