Quasthoff hört

Seit ein paar Monaten rezensiert Thomas Quasthoff Tonträger in Die Zeit. Die Hoffnung, das Rezensionswesen werde dadurch mehr Tiefgang erfahren, hat sich nicht erfüllt. Kaum vorstellbar, dass der Bass-Bariton wirklich so hört, wie er schreibt.
Nachdem neben viel "Klassik" seine Auswahl auch schon "Pop" streifte, war eine "Jazz"-Empfehlung nur noch eine Frage derselben. In Nr 28/06 ist es soweit. Quasthoff entdeckt "I´ve known Rivers and Other Bodies" (1973) von
Gary Bartz (den er seltsamerweise durchgängig Gary Lee Bartz nennt).
Es ist eine Wieder-Entdeckung; Quasthoff hat das Album als 14jähriger unfreiwillig gehört, als er im Gesang unterrichtet werden wollte, sein Bruder im Nebenzimmer aber "Bartzens Soli nachzustellen" versuchte.
Das ist ein Einstieg ganz im Stile der
Zeit. Blatt-typisch auch der Verweis auf die grosse Rahmenhandlung der Produktion, hier: Gary Lee Bartz repräsentiere "die guten Seiten der frühen Siebziger (...): Nonkonformismus, waches politisches Bewusstsein..." sowie Fachtermini in homöopathischer Dosierung ("Bartz´ Könnerschaft legiert die Power Charlie Parkers mit Coltranes mittlerer Love Supreme-Phase, bändigt das freie Spiel mit knochentrockenem Funk und verwandelt Verse von Langston Hughes oder Malcolm X in ergreifende Soul-Hymnen.")
Aber so richtig weiss er es auch nicht:
Miles Davis habe den Mann in jene Formation geholt, mit der er 1970 "beim Isle-of-Wight-Festival den Jazz elektrifizierte“. Das ist in Die Zeit abgeschrieben - und ebenso Kokolores wie die Wertung, Fusion á la Bartz habe seinerzeit "Gesamtkunstwerk" geheissen.
Quasthoff´s persönlicher Spass an diesem Album ist ihm unbenommen, er muss ihn nicht begründen, schon gar nicht mit falschem jazz-historischen Zungenschlag.
Aber, wo die Luft wirklich brannte
1973, das sagt uns ein kurzer Blick ins Archiv: Billy Cobham "Spectrum", "Miles Davis in Concert", Herbie Hancock "Headhunters", Mahavishnu Orchestra "Birds of Fire", Julian Priester "Love, Love", Weather Report "Sweetnighter", Ian Carr "Labyrinth"...


©Michael Rüsenberg, 2006. Nachdruck verboten