That´s Politics? - That´s Jazz! (2)

Wie wird Geist aus Materie?
Die Philosophie des Geistes weiß ein Lied davon zu singen.
Die analoge Frage: „wie wird aus Musik Politik?“ wird in unserer kleinen Welt seit langem so behandelt, als sei sie geklärt.
Wie selten zuvor durfte man dieser Tage im Standard aus Wien dem Denkfehler beim Entstehen zuschauen.
Ronald Pohl rezensiert darin „acht herrliche CDs“ von Lee Morgan, nämlich dessen komplette „Live at the Lighthouse“-Konzerte von 1970.
Wahrscheinlich sind sie gut. So gut, dass Pohl bei der Genre-Frage die Kategorien-Verwechslung in vollendeter Form darbietet:
„Es heißt nicht Free Jazz oder 'New Thing'; es meint auch nicht den geschmeidigen Übergang hinein in die 'Fusion', mit ihren fingerflinken Übungen. Es ist etwas nicht ausformuliertes, gesellschaftliches Drittes. Dieses umfasst diskriminierungsfreie Verhältnisse; es meint eine Welt, in der man Jazzmusikern nicht die Zähne ausschlägt“.
Den Rechenfehler geschenkt und ohne diese Box gehört zu haben: im Dreieck der musikalischen Entitäten Free Jazz, New Thing und Fusion müsste sich für den bedeutenden Trompeter sicher ein Platz finden lassen. Dass Morgan kraft seiner künstlerischen Qualitäten aber die Kategorien sprengt und er damit gar einen politisch-sozialen Raum kreiert, gesegnet obendrein mit „diskriminierungsfreien Verhältnissen“, ist der Entzückung durch Jazzmusik denn doch zu viel.
Hätte Pohl hier gestoppt, er hätte lediglich ein schönes Stück Jazzrezensentenprosa abgeliefert.
Aber nein, er muss ja in der Schlusspassage unbedingt noch den „12. Februar 1972“ (tatsächlich war es der 19. Februar 1972) unterbringen: da waren die diskriminierungsfreien Verhältnisse, zumindest für Seitenspringer, plötzlich vorbei.
Da "wurde Lee Morgan 33-jährig im New Yorker Club Slugs von seiner Frau Helen aus Eifersucht niedergeschossen".
Die Jubelrezension endet damit als unfreiwillige Satire.

erstellt: 20.10.21
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