IAN CARR, DIGBY FAIRWEATHER, BRIAN PRIESTLEY(Hg)
Rough Guide Jazz
2. Aufl, aktualisiert und erweitert
Stuttgart: J.B. Metzler, 2004
805 S., zahlreiche Fotos, 29.95 €

Gepriesen sei das Nachschlagewerk, das sich der Unvollständigkeit seiner Bemühungen bewusst ist, sich als poröses Werk bescheiden und nicht als wasserdicht ausgibt. Der Rough Guide Jazz gehört nicht dazu.
Er empfiehlt sich auf Cover nach wie vor als "der
ultimative Führer zum Jazz" und lässt im Vorwort alle Hemmungen fallen als "der umfassendste und aktuellste Führer durch einen Bereich der Musik, der von Jahr zu Jahr komplizierter wird. Das einzige von Aktiven Musikern verfasste Jazz-Lexikon gibt Fakten an die Hand, klärt strittige Punkte und beantwortet fundamentale Fragen."
Ja, mit diesen Fakten an der Hand kommst du durch das ganze Land...schon hier mag man erahnen, welcher Qualität die Übertragung aus dem Englischen ist.
Die deutsche Redaktion immerhin, das muss man loben, war schnell: die deutsche Ausgabe, die zweite, erweiterte und aktualisierte, folgt nur vier Monate auf das englische Original; gegenüber der ersten von 1999 ist die Anzahl der Einträge von 1.700 auf 1.800 angewachsen, der Umfang von 762 auf 805 Seiten.
Allein, was bedeutet das? - wenn man den
Elchtest macht, den ein jedes Musiker-Lexikon nur verlieren kann...kommt dauf an, wie hoch!
Also, ein Band, der von zwei
Trompetern verantwortet wird, kennt folgende Kollegen nicht: Jeremy Pelt, Nicolas Payton (!), Russell Gunn, Till Brönner, Paolo Fresu; von Thomas Heberer, Axel Dörner, Reiner Winterschladen, Markus Stockhausen ganz zu schweigen. Nun gut, wir haben hier ein von britischen Ohren geleitetes Unternehmen vor uns, da ist das zu verschmerzen (obgleich auch John Corbett aus Chicago zu den Mitarbeiten zählt, der trans-atlantisch zu den grössten Unterstützern von Dörner & Co zählt.)
Ganz sicher werden wir aber doch wohl bei der
neuen Generation britischer Jazzmusiker fündig, über die wir wenig wissen. Also suchen wir nach Soweto Kinch - Fehlanzeige! Denys Baptiste, Robert Mitchell, Richard Fairhurst, Huw Warren, Tim Giles - alles Fehlanzeigen!
Mehr noch: der
RGJ-Mitarbeiter Chris Parker lobt am Bruford-Album "A Part, and yet apart" die "einzigartige Earthworks-Besetzung" und führt sie namentlich auf: Patrick Clahar, Steve Hamilton, Mark Hodgson - aber ein je eigener Eintrag bleibt diesen Helden verwehrt. Dafür ist ein jeder vertreten, der irgendwann mal bei Nucleus eine Nebenrolle gespielt hat.
Selbstverständlich, der Rough Guide Jazz hat noch
nie was von Craig Taborn, Bily Kilson, Eric Harland, Eric Revis, Orrin Evans und Mike Clark gehört - und Peter Kowald lebt noch!
Dies alles liesse sich als lässliche Sünde abtun, böte der Rough Guide Jazz in den 1.800 Einträgen wirklich das, was er als Anspruch laut ausposaunt. Aber ebenso wie Jazz-Sendungen, von aktiven Musikern moderiert, die Zuhörer merklich ernüchtert haben und die Frage aufbrachten, ob ihr Einsatzort nicht besser möglichst nahe am Instrument ihrer Profession bliebe, kann auch der Rough Guide Jazz die These nicht entkräften:
Musiker sind im Zweifelsfall die schlechteren Autoren.
Sie leiden an Immunisierungsängsten, bloss niemanden zu vergrätzen, mit denen sie irgendwann einmal gespielt haben oder vielleicht irgendwann einmal werden spielen können. Von den historischen Grössen abgesehen, die ein jedes Jazz-Baby im Schlaf vor sich hin brabbelt, spannen sie deshalb 98 Prozent der hier Versammelten in einen Standardrahmen, in dem ein jeder Personalstil verdampft.
Über
Mike Stern, der nun wirklich über einen auch verbal beschreibbaren Stil verfügt, lesen wir hier: "Mike Sterns E-Gitarre steht meist unter Hochspannung, und er spielt sie gerne ausschweifend, aber absolut überzeugend."
Welche "Fakten, strittigen Punkte und fundamentalen Fragen" werden tangiert in diesem Satz über
Geri Allen? "Schon früh deutete sich an, dass ihr freier Geist und die vollendete Beherrschung ihres Instrumentes einmal ausgezeichnete, aber schwierig zu kategorisierende Musik hervorbringen würde."
Diese Kapitulation vor der Aufgabe eines Nachschlagewerkes leistet sich
Brian Priestley, als Pianist ein Mann vom Fach und obendrein ausgewiesen als Jazz-Pädagoge.
Manche dieser Stilblüten geht auf das Konto einer schlechten Übersetzung, das meiste aber ist durch den mangelnden Mut der Musiker-Autoren zu Wertungen und Kategorisierungen verursacht. Das
Jazzbuch von Joachim Ernst Berendt war einst voll davon - und deshalb angreifbar. Der Rough Guide Jazz hingegen macht keine Rückversicherung nötig bei "Ihrem Arzt oder Apotheker" - er ist ein Placebo.

© Michael Rüsenberg, 2004, Nachdruck verboten