PETER KEMPER
John Coltrane. Biographie
207 Seiten, 25 Euro
Stuttgart, 2017: Reclam
ISBN 978-3-15-011094-2

Auch 50 Jahre nach seinem Tod (17.07.67) ist der Einfluss von John Coltrane auf die Jazzwelt deutlich spürbar und beschränkt sich keineswegs auf seine Instrumentalkollegen; für letztere seien zwei so gegenläufige, heutige Talente wie Marius Neset und Kamasi Washington genannt.
Auch Coltrane´s Stücke werden gespielt, unter den neueren bleibt die Interpretation von „Countdown“ aus dem letzten Trio-Album von Vijay Iyer in Erinnerung. Ganz zu schweigen von der Legion teilweise abenteuerlicher „Giant Steps“-Adaptionen, bis hin zu der der ex-Michael Jackson-Gitarristin Jennifer Batten.
Das hätte ich mir als Bestandteil einer John Coltrane-Biografie anno 2017 gewünscht: die Coltrane-Legacy, oder auf gut Deutsch: die Coltrane-Rezeption, worin natürlich auch seinem ebenfalls Tenor spielenden Sohn Ravi eine entscheidende Rolle zukäme.
Peter Kemper belässt es bei einer Aufzählung der Coltrane-beeinflussten Tenorsaxophonisten. Ansonsten wählt er die Form einer konventionellen Biografie, also das Nacherzählen von Werk & Leben eines Künstlers.
Das ist sein gutes Recht.
cover kemper coltraneUnd im Falle des am 23. September 1926 in Hamlet/North Carolina geborenen John William Coltrane fällt ja auch reichlich Stoff an, „klassischer“ Jazzmusiker-Stoff:
Drogen- und Alkoholprobleme, massive Selbstzweifel, Mitwirkung an und eigene Schöpfung jazzhistorischer Meilensteine, ein früher Krebs-Tod noch vor dem 40. Lebensjahr.
Vor allem: eine Musik, die sich eignet, unter dem Aspekt „Spiritualität“ untersucht zu werden.
Und, Peter Kemper kann schreiben. Das weiß man aus seinen Beiträgen für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Auch im Buch besticht er durch einen feuilletonistischen Ton, durch eine flüssige Darstellung, die vermutlich Neulingen einen ordentlichen Einstieg verspricht.
Allerdings ist John Coltrane seit Jahren Gegenstand auch über das Feuilleton hinaus, nämlich Gegenstand von Forschung. Kemper kennt, ausweislich des Literaturverzeichnisses, einiges davon.
Aber was er von den Erkenntnissen dort in sein Format importiert, das ist gelegentlich verkürzt und musikalisch wenig belastbar.
Zwei Beispiele dafür. Zunächst Coltrane´s Tongebung auf dem Tenorsaxophon.
Kemper schreibt: „Oft hat man ihm später nachgesagt, er versprühe in seiner Musik das erhebende Gefühl von Baptisten-Predigern…“
Das ist eine starke Untertreibung. Hier lässt der Autor sich offenkundig von der Tatsache leiten, dass beide Großväter von John Coltrane Methodisten-Prediger waren, deren Kirche keinen ekstatischen Predigstil kannte.
Andererseits verweist Kempers Literaturliste auf die Arbeit des gleichfalls in Frankfurt beheimateten Gerhard Putschögl, ohne dass diese im Fließtext auftaucht.
Putschögl hat dieses Thema bestens ausgeleuchtet, er belegt an Hand der Musik und mit Aussagen von Coltrane und Elvin Jones, wie sehr Coltrane sich auf die ekstatischen Vorträge afroamerikanischer Prediger bezogen hat.
Wer je das Vergnügen hatte, Putschögl über den Einfluss von schwarzen Predigern auf Coltrane auch reden zu hören (mit akustischen Belegen, die klingen wie ein Konzert von James Brown ohne Rhythmusgruppe), der wird sich nicht mit der Andeutung begnügen, der Prediger-Einfluss werde Coltrane lediglich „nachsagt“. Er ist ein zentrales Ausdrucksmittel.
Das gilt insbesondere für den „späten“, den FreeJazz-Coltrane.
In der Beschreibung des Meisterwerkes aus jener Periode - „Ascension“, 1965 - findet sich eine andere Ungenauigkeit.
Kemper erweckt den Eindruck, Motor dieses Kollektivs sei die Spontaneität der Akteure gewesen, er spricht sogar von „Nichtwissen“ als zentralem Bestandteil ihrer Performance. Dagegen hat vor Jahrzehnten schon der jüngst verstorbene Musikwissenschaftler Ekkehard Jost nachgewiesen, dass und mit welchen musikalischen Zeichen John Coltrane die jeweiligen Passagen gesteuert hat.
Kemper zitiert die in der Tat „bahnbrechende“ Studio von Jost („Free Jazz - stilkritische Untersuchungen zum Jazz der 60er Jahre“, 1975) ausgerechnet in einem nicht-musikalischen Aspekt, nämlich dass Coltrane Kollegen wie Archie Shepp und Pharoah Sanders bei Engagements und Schallplattenaufnahmen unterstützt habe, was „den Kollektivimprovisationen von Ascension einen sozialen Sinn“ gegeben habe.
Apropos, „Ascension“; an dieser und an anderen Stellen im Buch geht Kemper der Gaul durch:

„In den brodelnden Kollektiv-Improvisationen von Ascension und den Aufnahmen des späten Coltrane-Quintetts glaubte man die Straßenkämpfe rebellierender Afroamerikaner zu hören. Die wilden Schreie der Saxophone konnten als reale ´Wutschreie“´ der Unterdrückung verstanden werden, die gewalttätigen Eruptionen am Schlagzeug als Rhythmus der ersehnten Revolution.
Musik galt jetzt nicht länger als Kriterium für Musikalität, sondern als Maßstab für politisches Bewußtsein, für die Fähigkeiten eines Musikers, seine geschundene Seele in die Freiheit zu entlassen, Klänge mit visionärer Verheißung aufzuladen. Kunst und Leben vermischten sich in dieser Perspektive bis zur Ununterscheidbarkeit“.

Mit Verlaub, das ist reiner Humbug, das ist jazz-romantischer Revolutionskitsch, für den das Buch nicht den Hauch eines Beleges enthält.
So wie hier lässt Kemper des öfteren die Subjekte und Prädikate solcher Groß-Aussagen unbestimmt, sodass offen bleibt: zitiert er hier jemanden? Und wenn ja: wen?
(Musik nicht länger Kriterium für Musikalität? Und wer in aller Welt z.B. hält denn Elvin Jones´ Spiel für „gewalttätige Eruptionen am Schlagzeug“?
)
Oder, gibt er seine eigene Meinung wieder?
Von einem auch philosophisch geschulten Kopf wie Peter Kemper hätte man präzisere Aussagen erwartet. Und nicht solche geistigen Nebelschwaden.

erstellt: 27.04.17
©Michael Rüsenberg, 2017. Alle Rechte vorbehalten

PS: (03.10.17)
Der Autor sieht sich falsch dargestellt und weisst in einer e-mail darauf hin, dass vor der oben kritisierten Passage (…“in den brodelnden Passagen…“) ein Satz steht, der den Ausschnitt als Zitat kennzeichne:
„In den Sechzigern, der Blütezeit Coltranes, wurde die improvisierte Musik als radikale, innovationshungrige Kunstform zur Protest-Folie einer weltweiten Aufbruchsbewegung hochstilisiert.“
Auf der Folgeseite spreche er überdies davon, „eine solche Überhöhung des Jazz zum Soundtrack sozialer Veränderungen erscheint heute (…) hoffnungslos romantisch und anachronistisch.“
Die Distanzierung ist erkennbar, ja. Problematisch bei Kemper aber bleibt, dass das anonyme Zitieren die Distanz zu seiner Position zu wenig deutlich macht.
Dazu trägt auch sein Umgang mit Hilfsverben bei.
John Coltrane hebt er auf Seite 97 in den Rang „eines der Gravitationszentren“ der sozialen und künstlerischen Aufbruchsbewegungen der turbulenten Sechziger. Nun denn, kann man im Hinblick auf eine der Eigenschaften („künstlerisch“) so sehen.
In der Begründung für diese These operiert er aber wieder mit einem Hilfsverb, dass erforderlich macht zu fragen: wer spricht hier?
„Die Beatles, Bob Dylan, Andy Warhol, Muhammad Ali, Martin Luther King, Malcolm X, Marshall McLuhan, die Bürgerrechtsbewegung, die Hippies und die Studentenproteste: all diese Phänomene mit ihren Widersprüchen sollten in Johns Saxophonspiel beispielhaft hörbar werden.“
Jedenfalls, mehr Wiederspiegelungstheorie war nie.